Hans-Jürgen Audehm, 2020 Dr. Hans-Jürgen Audehm, Jahrgang 1940, Lehrer für Russisch und Mathematik, lebt in Schwerin. Er war als Lehrer und in mehreren gesellschaftlichen Funktionen im Bezirk tätig. Im September 1994 begann er eine Tätigkeit als Bundesprogrammlehrer für „Deutsch als Fremdsprache“ an der Staatlichen Universität in Barnaul, der Hauptstadt des Altaigebiets. Er ist langjähriges Mitglied der Osteuropa-Freundschaftsgesellschaft Mecklenburg-Vorpommern e.V.
Am 9. Mai wird in der Russischen Föderation der Jahrestag des Sieges über den Hitlerfaschismus begangen. Es ist in diesem Jahr der 75. Für das Land wohl der wichtigste Gedenktag überhaupt. Angesichts der aktuellen Lage, die durch die Corona-Krise beherrscht wird, werden die geplanten Feiern und Paraden nicht in dem vorgesehenen Ausmaß stattfinden können. Das trifft das Volk tief in seiner Seele. Umso mehr ist es ein Anlass, jede Möglichkeit zu nutzen, um dieses Ereignis zu würdigen und allen Geschichtsverdrehern und russophoben Politikern entgegenzutreten. Nach 75 Jahren ist die Welt immer noch gespalten, geprägt von Hass und sinnlosen Kriegen. Der als überwunden geglaubte Kalte Krieg ist wieder gegenwärtig. Zwar musste die NATO ihr geplantes Großmanöver, eines der größten gegen Russland gerichteten, wegen der Pandemie zum Glück absagen, dennoch hält man an Sanktionen und einen von Hass erfüllten Wirtschaftskrieg fest, der von den USA angeführt und von der EU, einschließlich Deutschland, weiter praktiziert wird. Wer vergisst, dass es - gemeinsam mit den Alliierten - die damalige Sowjetunion war, die die Hauptlast des furchtbaren Zweiten Weltkrieges getragen hat, der muss sich nach seiner Grundhaltung zu Krieg und Frieden befragen lassen. Für mich ist das die meine Haltung und Wertung bestimmende Sicht auf alle Ereignisse, die mit diesem verheerenden Krieg und seinen Folgen verbunden sind. Über 1 400 Tage lang kämpften sowjetische Soldaten an einer bis zu 6000 km langen Frontlinie. Mehr als 20 Millionen Tote allein auf sowjetischer Seite. Es gibt keine russische Familie, der der Krieg keine Wunden schlug. Über 1 700 Städte und mehr als 70 000 Dörfer wurden zerstört, ausgeplündert, dem Erdboden gleich gemacht. Wenn ich an den Jahrestag des Sieges der Roten Armee denke, dann entsteht vor mir ein emotionales Mosaik persönlichen Erlebens. Ich hatte die Möglichkeit, mehrmals über einen längeren Zeitraum in der ehemaligen Sowjetunion bzw. in der Russischen Föderation zu studieren bzw. als Lehrer und pädagogischer Berater für ein Projekt der Bundesregierung für die russlanddeutsche Minderheit tätig zu sein. Letzteres sieben Jahre lang in Sibirien und in Moskau. Es gehört in Russland zur Tradition, dass sich am 9. Mai in den großen Städten die noch lebenden Veteranen des Krieges versammeln, um sich mit der Jugend zu treffen. So in Moskau vor dem Bolschoi-Theater und im Gorkipark. Solche Treffen gehören zu den beeindruckenden Erlebnissen, die ich in diesem Land hatte. 1974 besuchte ich auf Einladung russischer Freunde Belgorod, eine mittlere Bezirkshauptstadt mit damals mehr als 200.000 Einwohnern. Eine Stadt, die unweit von Kursk , dem Ort der größten historischen Panzerschlacht im Zweiten Weltkrieg, völlig zerstört wurde. In einer Kirche der Stadt wurde später ein Museum eingerichtet. Dort erfuhr ich, dass an einem Tag des Jahres 1942 über 3000 Bürger, vorwiegend Partisanen, Frauen und Kinder, bestialisch von den Faschisten ermordet wurden. Am 4.7. 1942 fiel der junge Jagdflieger Fjodor Ugan, gerade 20 Jahre alt. Er war ein Sohn der Stadt und geriet in einen ungleichen Kampf mit 11 faschistischen Kampfflugzeugen, von denen er drei vernichten konnte. Übrig geblieben als Mahnung und Erinnerung an ihn sind seine Uhr, ein zerschlissenes Notizbuch sowie ein verbogener, zerschmolzener Kamm. 1978 traf ich in Moskau einen Panzeroberst, den der Krieg zum Krüppel gemacht hatte. Er hatte ihn die Beine gekostet. Um ihn herum junge Leute, die ihm Blumen schenkten. Einen Satz habe ich nie vergessen, den er so von Herzen und unter Tränen sagte: „Wir haben den Faschismus zerschlagen, um den Völkern Glück und Frieden zu bringen.“ Den 50. Jahrestag des Sieges erlebte ich in Barnaul, der Hauptstadt des Altai-Gebietes, wo ich als Lehrer an drei Universitäten unterrichtete. Der Tag war regnerisch, was Tausende Barnauler nicht davon abhielt, sich am Ehrenmal für die Gefallenen einzufinden. Jeder dritte Barnauler, mehrere Hundert also, waren damals nicht aus dem Krieg zurückgekehrt. Auf einem Ehrenfriedhof in Barnaul hatte man meterhohe Bronzewände mit den Namen aller Toten errichtet. Fast hinter jedem Namen steckte am 9. Mai 2095 eine rote Nelke oder eine Rose. Um das Denkmal des legendären Panzers T- 34 versammelten sich Tausende, die Schuljugend verteilte unter den Veteranen Blumen. 50 Glockenschläge ließen die Menge erstarren, es herrscht Totenstille unter dem Meer der Regenschirme. Mein junger Leipziger Kollege und ich legten unter Tränen Blumen auf das Vorderteil des Panzers. Ein Veteran umarmte uns wortlos. Nachmittags fand ein großes Volksfest auf einem zentralen Platz statt. Die Leute sangen und tanzten bis spät in die Nacht, obwohl es zwischendurch hagelte. Den Abschluss machte ein großes Feuerwerk. Ich erinnere mich an Filme wie „Ein Menschenschicksal“, „Man wird nicht als Soldat geboren“, „Das Haus, in dem ich wohne“, „Die Kraniche ziehen“ und viele mehr. Schriftsteller wie Scholochow, Bondarew, Simonow und Ehrenburg bewegten uns. Jewtuschenkos Frage „Meint ihr die Russen wollen Krieg?“ wurde zum Leitmotiv des Gedenkens in der DDR. Eine kleine Erzählung von Wladimir Bogomolow ist mir besonders nahe gegangen. „Zosia“ erzählt die zarte Liebesgeschichte zwischen einem siebzehnjährigen polnischen Bauernmädchen und einem blutjungen russischen Offizier. Ehe der Held dem Mädchen seine Liebe gestehen konnte, kam der Einsatzbefehl. Vorher hatte er noch auf Befehl einen dringenden Bericht über die Gefallenen des letzten Gefechts zu schreiben und deren Verwandte zu benachrichtigen. 203 Formulare waren auszufüllen, hinter jedem Namen - ein menschliches Schicksal. Der Ich-Erzähler erinnert sich beim Schreiben an seine nunmehr toten Freunde, Kameraden, Vorgesetzten: „Ich sah sie deutlich vor mir, hörte ihre Stimmen, ihr Lachen klang mir in den Ohren, und ich wurde noch einmal Zeuge ihres Todes… Morgen würde die Feldpost meine Todesnachrichten in alle Teile des Landes tragen und in hunderten von Familien würden Trauer, Wehklagen, Einsamkeit, Not und Entbehrung ihren Einzug halten. Wie viele Hoffnungen und Erwartungen werden durch diese Briefe zerstört…“ Es gibt kaum eine andere Erzählung, die sich in mir als Symbol der Sinnlosigkeit und Grausamkeit des Krieges so festgesetzt hat wie diese. Sie ist mir Mahnung zum friedlichen Miteinander, und ihre Botschaft macht mich wütend angesichts der Gefahren der Gegenwart.
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