Esther Bejarano, 2013 Esther Bejarano, Jahrgang 1924, verlor durch die NS-Gewaltherrschaft ihre Familie. Ihr Bruder entkam nach Amerika, eine Schwester nach Palästina. Das Heim, wo sie sich zur Vorbereitung auf die Auswanderung nach Palästina befand, wurde von den Nationalsozialisten besetzt und in ein Arbeitslager umgewandelt; später wurden alle Insassen nach Auschwitz deportiert. Wegen ihrer Musikalität konnte sie im Mädchenorchester überleben. Als sog. Mischling gelangte sie von dort in das KZ Ravensbrück, wo sie zwei Jahre Zwangsarbeit für Siemens leisten musste. Nach 1945 übte sie ihren Beruf als Sängerin aus. Noch heute tritt sie mit ihrem Sohn Joram und der Rap-Band microphone mafia auf und liest in Schulen. Allein 2019 leistete sie über 100 Auftritte. Esther Bejarano ist Ehrenvorsitzende der VVN-BdA. Ravensbrück … Ende April 1945 ging folgende Nachricht von Block zu Block: „Frauen, zieht euch Zivilkleider unter eure Häftlings-kleidung. Wir werden in ein paar Stunden evakuiert, denn die Sowjets sind schon in der Nähe.“ Unsere kommunistischen Gefangenen, die in die Zimmerdecke eines Blocks ein Radio eingebaut hatten, waren genau über die politische Lage orientiert. Sie gaben uns die Informationen durch.
Nun war es soweit. Alle Häftlinge, die noch einigermaßen gesund waren und laufen konnten, mussten aus dem Lager raus. Wir gingen tagelang in einer Kolonne durch Städte, Wälder, über Felder. An der Seite gingen die SS-Schergen mit ihren geladenen Gewehren. Wer hinfiel, wer nicht mehr laufen konnte, wurde gnadenlos von den Verbrechern erschossen, obwohl sie wussten, dass der Krieg schon fast zu Ende war. So gab es Häftlinge, die Folterungen, Krankheiten, Hunger und Kälte in einer langen Leidenszeit überstanden hatten, aber fünf Minuten vor zwölf von der Faschistenbande ermordet wurden. Wir marschierten innerhalb Mecklenburgs und kamen zu dem Konzentrationslager Malchow. Die Frauen aus diesem KZ reihten sich bei uns ein. Dabei trafen wir einige Freundinnen, die mit uns zusammen in Auschwitz gewesen waren. Ich fand meine beste Freundin Mirjam Edel wieder. Wir gingen zu siebt in einer Reihe. Welche Freude, dass wir uns hier wieder trafen und der Freiheit gemeinsam entgegengehen konnten. Als Proviant hatten wir schon in Ravensbrück und in Malchow jeder ein Paket erhalten. Das waren Pakete, die von ausländischen Institutionen in die KZ geschickt wurden. Ein Paket musste für den ganzen Weg reichen. In diesen Paketen waren allerhand Konserven, Ölsardinen, Corned-beef, Crackers usw. Das war sehr gefährlich, solche schwer zu verdauenden Lebensmittel plötzlich zu essen. Viele von uns konnten diese Nahrung gar nicht vertragen. Zwei Jahre und mehr hatten wir solche nahrhaften Lebensmittel entbehrt. Nun musste sich der Magen erst mal wieder an die Freiheit gewöhnen. Keiner wusste, wohin wir gingen. Nachts blieben wir meistens auf großen Plätzen in einer Kleinstadt sitzen oder liegen. Die Nächte im April waren noch ganz schön kalt. Wir froren, weil wir ja kaum warm genug angezogen waren. Der Boden war kalt. Trotzdem legten wir uns auf die kalten Pflastersteine, denn wir waren von dem langen Laufen sehr erschöpft und freuten uns auf eine Rast. Nach etwa fünf Tagen Marsch hörten wir, wie ein SS-Mann zu einem anderen sagte, es dürfe nicht mehr geschossen werden. Wir beschlossen, die Kolonne zu verlassen und zu siebt alleine weiter zu gehen. Eine nach der anderen versteckten wir uns hinter Bäumen und Sträuchern, als wir gerade durch einen Wald marschierten. Die Kolonne zog ohne uns weiter. Wir warteten eine Weile, bis die Gefahr vorbei war. Kein SS-Mann war zu sehen. Dann irrten wir durch den Wald, zogen unsere Häftlingskleidung aus und warfen sie weg. Als wir auf eine Landstraße kamen, mischten wir uns unter die vielen Flüchtlinge, die mit kleinen Leiterwagen, vollbepackt mit Koffern und Bündeln, auf der Landstraße umherirrten. Viele wussten noch gar nicht, wohin sie gingen. Die Leute waren alle aus Berlin und Umgebung. Sie flüchteten vor den Russen. Wir gingen mit ihnen, bis wir in ein kleines Dorf kamen. In einem Bauernhaus baten wir um Unterkunft. Der Bauer erlaubte uns, in einer Scheune zu übernachten. Noch erzählten wir niemandem, dass wir aus dem KZ kamen. Wir hatten große Angst, irgendein Nazi könnte uns wieder zu der Kolonne zurückbringen. Außerdem war ja der Krieg noch nicht beendet. Die SS kämpfte noch in den Wäldern. Nun schliefen wir im Heu, und am nächsten Morgen wurden wir von dem Bauer geweckt. Er sagte zu uns: „Wenn ihr links runter geht, kommt ihr zu den Amerikanern. Geht ihr nach rechts, da sind die Russen.“ Wir brauchten gar nicht lange zu überlegen, wohin wir gehen sollten, denn links von uns kamen zwei amerikanische Panzer die Straße runtergefahren. Wir nahmen unsere paar Sachen und liefen ihnen entgegen. Die amerikanischen Soldaten halfen uns auf die Panzer und begrüßten uns sehr herzlich. Als wir ihnen unsere Nummern auf dem linken Arm zeigten, umarmten und küssten sie uns vor Freude, dass sie uns helfen konnten. Wir Mädchen sahen nicht gerade gut aus. Die meisten von uns waren sehr abgemagert, einige fühlten sich wirklich schwach. Die Soldaten wendeten und fuhren zurück in das mecklenburgische Städtchen Lübsch. Die Amis halfen uns vom Panzer runter und luden uns in ein Restaurant ein. Nun mussten wir ihnen vom KZ erzählen. Irmgard und ich konnten Englisch sprechen, und so beschrieben wir ihnen, was wir alles durchgemacht hatten. Ich erzählte ihnen auch, dass ich in Auschwitz im Orchester Akkordeon gespielt hatte. Es verging vielleicht eine halbe Stunde, da stand plötzlich ein Soldat mit einem Akkordeon vor mir. Er sagte: „Ich schenke dir das Akkordeon, komm lass uns singen, und du musst spielen.“ Erst tranken wir Kaffee und aßen Kuchen, Schokolade, Kekse, die wir von den Amerikanern spendiert bekamen. Dann sangen wir alle zusammen. Wir waren sozusagen „allein“ in der Kneipe. Die Deutschen hatten sich verdrückt. Inzwischen hatten die Amerikaner für uns ein paar Zimmer organisiert. Am Nachmittag trafen wir uns wieder mit ihnen in der Kneipe, sie waren anscheinend sehr froh, uns getroffen zu haben. Während wir so gemütlich zusammen saßen, hörten wir auf der Straße großen Jubel. Wir liefen alle auf die Straße und sahen, wie die Rote Armee einmarschierte. Die amerikanischen und russischen Soldaten begrüßten, umarmten und küssten sich. Alle waren glücklich, dass der Krieg endlich beendet war. Ein russischer Soldat brachte ein riesengroßes Bild von Adolf Hitler und stellte es mitten auf den Marktplatz. Ein anderer russischer Soldat rief: » Musik, wer macht Musik?« Ich nahm mein Akkordeon und ging auf den Marktplatz. Alle stellten sich rund um das Bild. Ein amerikanischer und ein russischer Soldat zündeten es an. Adolf Hitlers Bild brannte lichterloh, die Soldaten und die Mädchen aus dem KZ tanzten um das Bild herum, und ich spielte Akkordeon. Auch dieses Bild werde ich nie vergessen. … Dieses war meine Befreiung vom Hitlerfaschismus. Und es war nicht nur meine Befreiung - es war meine zweite Geburt.
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