Dieter Seeger, 2010Dieter Seeger, Jahrgang 1934, lebt in Rathenow. In dieser Gegend erlebte er auch das Kriegsende. Er erlernte den Beruf eines Stahlbauschlossers, arbeitete später an einer Schule als Pionierleiter der Freundschaft „Walentina Tereschkowa“ und als Lehrer. Er ist kommunalpolitisch engagiert, so trägt er als Lokalhistoriker Geschichten über deutsch-sowjetische Begegnungen zusammen. Im April 1945 kamen Soldaten, die unsere großdeutsche Wehrmacht von Moskau und Stalingrad bis hier zurück gejagt hatten. Meine erste Begegnung mit den Feinden lag da bereits ein Stück zurück. Kriegsgefangene schlurften einige Jahre zuvor unter Bewachung durch die Rathenower Straßen, abgerissen, abgemagert. So sahen sie also aus, die Untermenschen. Und da sollte man sich nicht fürchten? Mutter und wir vier Kinder hörten 1945 die Artillerie der Amerikaner oder Engländer im Westen. Sie rückten auf die Elbe vor, und von da waren es nur 30 Kilometer bis Rathenow. Der Anblick der Verteidigungsanlagen in und um Rathenow versetzte uns in Panik: Wenn der Ami auf Widerstand stößt, das kannten wir, schickt er seine Luftwaffe und legt Bombenteppiche. Das würden wir nicht überleben. Also flohen wir auf ein Dorf, acht Kilometer entfernt. Deutsche Truppen kamen auf ihrer Flucht nach Westen durch Stechow, die Angst nahm zu. Mein älterer Bruder und ich waren nach Eßbarem ausgesandt worden, da sahen wir ihn auf seinem Pferd: Zuerst glaubten wir, es wäre ein deutscher Soldat, aber der da hielt den Karabiner auf seinem Rücken mit dem Lauf nach unten! Bei der Wehrmacht gab es das nicht. Und seine Feldbluse war so verstaubt, dass ein Hoheitsadler nicht zu sehen war. Er ritt so ruhig und selbstverständlich mitten auf der Straße! Wir begriffen erst auf dem Rückweg, als uns ein zweiter Reiter in den Weg kam. Aber der war ein Kosak mit schwarzem Uniformrock, eher ein Trachtenrock, Silberschnüre dran und Patronenschlaufen, Säbel an der Seite und auf dem Kopf eine hohe Pelzmütze mit rotem Deckel. In der Hand hielt er einen für mich riesengroßen Revolver, mit dem er fuchtelte, als er uns sehr laut ansprach. Meine Güte, jetzt würden wir erschossen! Zum Glück kam ein Bessarabiendeutscher, der ihm antwortete und uns die Flucht ermöglichte. Als wir am Gutspark vorbei kamen, pfiffen ein paar Kugeln über uns hinweg. In unserem Quartier bei Onkel Rudolf schlugen wir Alarm, alle stürzten in den Vorratskeller der Scheune. Die sowjetischen Aufklärer zogen sich zurück, und wir warteten … auf den Tod. Der würde gewiss kommen, denn selbst wir Kinder wussten aus den Erwachsenengesprächen, was deutsche Soldaten im Osten angerichtet hatten. Unser Vater hatte im Urlaub davon erzählt, mein Onkel Herbert hatte seiner Mutter von Erschießungen auf Kreta gebeichtet. Und mein Onkel Hans war bei der Waffen-SS… Die Russen zogen durch das Dorf Stechow zum Sturm auf Rathenow, der letzten „Festung“ vor der Elbe. Es tauchte auch mal ein deutscher Offizier auf, der mit seiner MPi patrouillierte: Seht her, wir geben nicht auf! Dann schoss ein Granatwerfer vom Ferchesarer See herüber, Rotarmisten waren wieder da und schossen zurück. Wir steckten im Keller. Noch lebten wir. Eines Morgens ging die Nachricht um: Von durchfahrenden Lastwagen aus hatten deutsche Soldaten einen sowjetischen Reiter aus dem Sattel geschossen. Die Dorfbewohner und alle Flüchtlinge wurden auf den Dorfplatz befohlen. Nicht nur wir waren uns sicher, was folgen würde. Der Fallschirmjäger Herbert Ziemann, mein Onkel, stand auf Kreta im Erschießungskommando, als sie für einen erschossenen Soldaten ein ganzes Dorf als Geiseln umbrachten. Wir stürzten also wie alle Dorfbewohner Hals über Kopf auf die Straße - und zum Wald. Fast hatten wir ihn erreicht, da knallte es von rechts. Ein halbes Dutzend Reiter galoppierte heran. Sie schossen mit Karabinern und Pistolen wild in die Luft und schnitten uns den Weg ab. Mit endlosem Wortschwall jagten sie uns ins Dorf zurück. Die rumänischen Flüchtlinge, die mit uns rannten, klärten uns auf: Die Waldwege waren von den Deutschen vermint worden. Die Russen wollten uns nicht ins Verderben rennen lassen. Als wir eine Woche später nach Rathenow zurückkehrten, passierten wir zwei der Minensperren am Ferchesarer Weg. Soldaten waren am Wegrand begraben, die zerfetzten Pferdeleichen lagen noch da. Die befohlene Versammlung auf dem Dorfplatz war schnell zu Ende. Der Kommandant hatte keine Rachegelüste. Er wollte nur ein Paar Stiefel. Er bekam sie. Aber wir hatten unsere Angst noch längst nicht überwunden. Einheiten der 1. Polnischen Armee zogen nun durch Stechow. Die Nachricht flog ihnen voran, die Einwohner verkrochen sich in den Kellern. Das Wissen um die Untaten der Deutschen in Polen jagte allen erneut Schrecken ein. Es hieß, die Polen würden von allen Feinden die schlimmsten sein… Im Dorf aber fand sich nach und nach der Rückwärtige Dienst einer Division der 47. Sowjetischen Armee ein. Der Befehlsstand war am Rathenower Stadtrand, die Stäbe lagen weiter zurück. In Onkel Rudolfs Haus hatten sich zwei Offiziere, vermutlich der Politabteilung, einquartiert, auf dem Hof war zeitweilig eine Gefangenensammelstelle eingerichtet. Während in Rathenow erbittert gekämpft wurde, hatten die beiden Leutnants auch mal eine freie Stunde. Und sie hatten ein requiriertes, offenes, rotes Zweisitzerauto zu ihrer Verfügung. Sie beschwatzten uns Kinder, mit ihnen eine Fahrt zu machen: Ein Offizier, zwei Kinder. Das würde ein Abenteuer werden, eine Autofahrt! Ich stieg mit Ulla ein. Der Wagen fuhr mit rasender Geschwindigkeit die Sandstraße entlang bis zum Waldrand. Der Wind pfiff uns um die Ohren, die Räder hoppelten durch die Löcher. Plötzlich kam mir der furchtbare Gedanke: Was, wenn wir da hinten eins über die Rübe bekamen und im Wald verscharrt würden? Die Russen waren doch Untermenschen! Oft hatte die Havelzeitung über deren Deutschenhass und ihre Verbrechen berichtet. Jede Freude erlosch, pure Angst erfüllte mich. Aber der Russe drehte um, und als ich ausstieg, fragte er, ob mir schlecht wäre. Ich schlotterte an allen Gliedern. Wir waren nicht abgemurkst worden. Am Mittag fuhr an der Straßengabelung vor Onkel Rudolfs Haus eine Feldküche vor. Ein Koch hantierte in weißer Schürze. Zuerst wurden die Rotarmisten versorgt, dann kamen die Gefangenen dran. Wir Kinder standen an der Gulaschkanone und schnupperten nach der Kohlsuppe. Da bedeutete uns der Koch, Gefäße zu holen, und wir bekamen einen großen Schlag Suppe und dazu einen der Brotknuste, die die Russen dazu essen. Die Suppe schmeckte, aber sie war schon ein bisschen anders, als wir es kannten. Kartoffeln, Kohlblätter und große Fleischstücke schwammen in sehr fetter Brühe. Es war die erste warme Mahlzeit nach dem Krieg, und sie kam aus einer russischen Feldküche. Dann gab der Kommandant bekannt, da alle Flüchtlinge für jedes ihrer Kinder einen Liter Milch von den Großbauern abholen durften. Was fluchten die über die Besatzung, aber sie mussten sich fügen.
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