Dr. Tatjana und Dr. Dieter Weber, 2020Dr. phil. Tatjana Weber, Jahrgang 1954, geb. Misch, 1976 Diplomlehrerin für Russisch und Geschichte (Humboldt Universität zu Berlin), 1983 Promotion zum Dr. phil. an der Lomonossow Universität Moskau, zwischen 1978 und 1995 u.a. tätig an der Botschaft der DDR und an der Deutschen Schule Moskau bei der Botschaft der BRD, 1996–2019 Erzieherin und Dozentin für Deutsch als Fremdsprache im Oberallgäu. Heute ist sie Rentnerin und lebt in Oy-Mittelberg/Allgäu. Dr. phil. Dieter Weber, Jahrgang 1951, Diplom-Historiker, 1977 Diplom-Historiker, (Humboldt Universität zu Berlin), 1983 Promotion zum Dr. phil. An der Moskauer Pädagogischen Universität, 1983-1988 Tätigkeit in der Gesellschaft für Deutsch-Sowjetische Freundschaft und an der HUB, 1988 bis 1992 u.a. tätig als Mitarbeiter der Botschaft der DDR und als Referent/2. Sekretär der Botschaft der BRD, Kulturabteilung, bis 1995 für deutsch-russische Hochschulprojekte, ab 1997 im Allgäu-Museum Kempten, 2001 Archivar im Stadtarchiv Kempten. Heute ist er Rentner und lebt in Oy-Mittelberg/Allgäu. Das ist die Geschichte einer 100-jährigen mutigen Moskauerin: Widerstandskämpferin – KZ-Überlebende – Geschichtsaufklärerin, und ihrer Rettung durch die deutsche Familie Schindler-Čihar im Jahre 1945 bei Karlsbad und der bis heute währenden tiefen Freundschaft zweier Familien. Vor 100 Jahren, am 23. Mai 1920, wurde unsere älteste Moskauer Freundin Farida Chodshajewna Saliksjanowa in eine tatarischstämmige Arbeiterfamilie in Moskau hineingeboren. Obwohl in ihrem Reisepass als Nationalität also „Tatarin“ zu lesen ist, fühlte sie sich immer eher als Moskauerin. Farida hatte zehn Geschwister. Heute lebt sie im Moskauer Gebiet bei ihrem Neffen Dr. Damir Davletchin, einem promovierten Hochschullehrer, der sich mit seiner Familie rührend um sie kümmert. Als sie sich noch bis ins hohe Alter selbst versorgen konnte, lebte sie allein in ihrer kleinen Moskauer Wohnung in der Schumkin-Straße. Hier besuchten wir sie oft, als wir in der Hauptstadt fast 12 Jahre lang lebten und arbeiteten. Oder sie kam zu uns, meist anlässlich vom Gedenk- oder Familienfeiern in unsere Wohnung im Südwesten Moskaus. Faridas Kindheit und Jugend verliefen so, wie die vieler Moskauer Mädchen: Schule, Ausbildung, Arbeit oder/und Studium. Sie wurde in den 1930er Jahren Mitglied im Komsomol und begann nach dem Abitur ihrer Neigung folgend Architektur zu studieren. Noch vor Ende des Studiums begann der Überfall der Hitler-Wehrmacht auf die Sowjetunion. Der Aufruf Stalins zum Großen Vaterländischen Krieg war für sie dann selbstverständliche Verpflichtung, sich freiwillig zur Roten Armee zu melden. Nach kurzer Ausbildung wurde die Studentin als Aufklärerin hinter den deutschen Linien im Hinterland des Feindes eingesetzt. 1943 wurde sie während eines Einsatzes verraten. Der Wehrmachtsgeheimdienst, also die sogenannte „Abwehr“, mit seiner „Abteilung Fremde Heere Ost“, die seit Mai 1942 Reinhard Gehlen – nach 1949 Adenauers erster Chef des Bundesnachrichtendienstes (BND) – unterstand, versuchte Farida „umzudrehen“, also zum Verrat zu drängen, um der sowjetischen militärischen Aufklärung Täuschungsnachrichten zu übermitteln. Es könnte durchaus möglich gewesen sein, dass sie es mit Gehlen selbst zu tun bekam. Doch die Herren, die sie zur Verräterin machen wollten, erwiesen sich eher nicht als Kavaliere und stellten sich ihr namentlich nicht vor. Trotz massiven Drucks – in solchen Fällen war immer auch Gewalt oder gar Folter im Spiel, worüber Farida aber nie sprach –, weigerte sie sich strikt, als Agentin für die Deutschen zu arbeiten. Gehlens Geheimdienstler ließen sie schließlich in ein Wehrmachts-Straflager in Estland deportieren und danach ins Zuchthaus Brandenburg, vielleicht in der Hoffnung, so ihren Widerstand doch noch zu brechen. Im September 1944 erfolgte schließlich Faridas Deportation ins Frauen-KZ Ravensbrück. Dort unter dem Kommando der SS erhielt sie den roten Winkel auf ihre Häftlingskleidung, also das Dreieck aus rotem Stoff mit der Aufschrift „SU“ [Sowjetunion] für sowjetische Kriegsgefangene. Im Oktober 1944 wurde Farida mit anderen sowjetischen Gefangenen von Ravensbrück aus in eines der berüchtigten Arbeitsaußenkommandos verlegt, die meist mit gefährlicher Schwerstarbeit und baldiger Todeserwartung verbunden waren. Es war ein gefürchtetes Außenkommando des KZ Buchenwald, das Frauenaußenlager Meuselwitz (unweit von Altenburg in Thüringen). Hier betrieb der größte sächsische Rüstungskonzern, die Hugo-Schneider-AG (HASAG) mit Hauptsitz in Leipzig-Paunsdorf, ein Werk. Ab Juni 1944 sollte der Arbeitskräftemangel durch KZ-Häftlinge ausgeglichen werden. So entstanden außer in Meuselwitz für die HASAG weitere Außenlager in Altenburg, Leipzig, Colditz, Flößberg, Schlieben und Taucha. Die weiblichen sowjetischen Gefangenen des Außenlagers Meuselwitz wurden nach alliierten Bombenangriffen auf Meuselwitz und Umgebung auch für besonders gefährliche Arbeiten wie die Beseitigung von „Blindgängern“ in und um Meuselwitz eingesetzt. Farida wurde zweimal dazu gezwungen. Den Einsatz von Frauen zur Beseitigung von nichtexplodierten, noch scharfen Bomben, konnte die Forschung erstmals am Beispiel des Frauenaußenlagers Meuselwitz dokumentieren. Farida sprach darüber, veröffentlicht 2016 in der „Thüringer Landeszeitung“ unter dem Titel: „Buchenwald 1937 bis 1945: Die weiblichen Gefangenen von Buchenwald. Die Geschichte hinter einem Foto der Ausstellung »Ausgrenzung und Gewalt«, das nur auf den ersten Blick eine Alltagssituation im Krieg zeigt“.[1] Hier heißt es: „Todesangst begleitete die Frauen in Momenten wie diesen, erinnert sich die damals 24-jährige Russin Farida Saliksjanowa, die zweimal »Blindgänger« ausgraben musste. Aus vielen deutschen Städten sind ähnliche Fotos überliefert. Sie zeigen Häftlinge bei Aufräumarbeiten und Bombenentschärfungen – vielfach mitten in den Städten und vor den Augen der einheimischen Bevölkerung. Und dennoch sind die Aufnahmen aus Meuselwitz eine Ausnahme: Denn sie belegen erstmals fotografisch, dass die Städte in Zusammenarbeit mit der SS Frauen zu solch lebensgefährlichen Schwerstarbeiten heranzogen. Angefertigt wurde das Foto – und drei weitere – für das Kriegstagebuch der Stadt Meuselwitz. […] Geschrieben steht dort: »13. 10. 1944: Blindgänger wurden von weiblichen KZ-Häftlingen ausgegraben«. In der neuen Dauerausstellung in Buchenwald werden sie nun erstmals gezeigt.“ Weiter heißt es in dem Artikel über die Bilder: „Frauen mit Schaufeln und Spaten bei der Feldarbeit: Auf den ersten Blick scheint der Fotograf am 13. Oktober 1944 in der Nähe von Meuselwitz eine wenig bedeutsame Alltagssituation festzuhalten. Doch der Schein trügt. Bei genauerem Hinsehen wird deutlich, dass es sich bei den Frauen um KZ-Häftlinge handelt. Sie tragen Zivilkleidung, denn im Herbst 1944 sind die Vorräte an gestreiften Häftlingsuniformen längst aufgebraucht. Lediglich aufgenähte Stoffstreifen und -winkel kennzeichnen die Frauen als Häftlinge. Sie stammen aus dem Lager Meuselwitz. Eine Woche zuvor hat die SS es unweit des Betriebsgeländes der Hugo-Schneider-AG (HASAG) eingerichtet. Das Lager ist eines von über zwei Dutzend Frauenaußenlagern, die dem Konzentrationslager Buchenwald unterstehen. 1500 Frauen, überwiegend aus Polen und der Sowjetunion, müssen in der HASAG Meuselwitz bis zur Räumung des Lagers im April 1945 Waffen für den deutschen »Endsieg« produzieren.“ Farida berichtete selbst vor einigen Jahren darüber[2]: „Das war ein Außenlager von Buchenwald. Für uns Kriegsgefangene[3] gab es eine separate Baracke. Die Bedingungen waren für uns, im Vergleich zum übrigen Lager, ganz anders. Worin kam das zum Ausdruck? Dort war eine Fabrik, wo irgendwelche Teile für die Rüstung hergestellt wurden. Dorthin zu gelangen, war ein Privileg, weil es dort warm war. Dort war die Arbeit nicht so schwer. Dort gab es verschiedene Arbeiten. Einige arbeiteten an Werkzeugmaschinen, andere verrichteten andere Arbeiten. Mit einem Wort, die Arbeit war dort nicht [ganz so] körperlich schwer. Und was dort noch so besonders war, war die Früh- und die Nachtschicht. Wenn jemand in die Nachtschicht kam, hatte er die Möglichkeit sich zu waschen. Das war das Angenehmste. Deshalb war es der Traum eines Jeden, in die Nachtschicht zu kommen. Es gab eine Mittagspause von 40 Minuten Länge. Da konnte man sich entweder waschen oder schlafen, besser gesagt schlummern. Aber Kriegsgefangene wurden nicht dorthin gelassen. Kriegsgefangene verrichteten Außenarbeiten, nur Außenarbeiten. Dort waren irgendwelche Baustellen. Wir schleppten Betonplatten in Loren. Wir beluden Karren mit Zement und Sand. Am Sonntag war für das Lager arbeitsfreier Tag. Aber für die [sowjetischen] Kriegsgefangenen gab es keinen freien Tag. Uns brachte man zu Aufräum- und Reinigungsarbeiten in die Stadt. Dort waren Toiletten. Im Allgemeinen gab es verschiedene Arbeiten in der Stadt. Zwei Vorfälle waren schrecklich. Man hatte uns irgendwo hingebracht, damit wir nicht explodierte Bomben sicherstellten. Das war irgendwo in der Umgebung von Meuselwitz. Ich kann es nicht mehr genau sagen. Wir wurden dorthin gebracht. Als die Bomben hergestellt wurden, hat sie jemand so präpariert, dass sie nicht explodierten. Wer es auch immer getan hat, ihm sei Dank! Zumindest sind sie nicht explodiert, als wir sie ausgruben und sicherstellten. Auf diese Art und Weise, weil wir solches Glück hatten, sind wir am Leben geblieben. Das war auch eine Arbeit für Kriegsgefangene[4]. Die Baracke war separat. Verpflegt wurden wir genauso wie die übrigen Lagerinsassen. Bestraft wurden wir für alles Mögliche. Dazu kann ich auch einen Vorfall erzählen. Ich wollte auch irgendwie in die Nachtschicht gelangen, um mich zu waschen. Ein Mädchen war krank, und ich versuchte, an ihrer Stelle zu gehen. Und wirklich, ich schaffte es zu gehen und konnte mich auch waschen. Aber danach erhielt ich Peitschenhiebe auf meinen Rücken. Davon habe ich bis jetzt Probleme mit der Wirbelsäule. Dieser Schmerz ist mir, wie soll ich sagen, erhalten geblieben. Aber damals gelang es mir, mich zu waschen. Aber im Übrigen kann man sagen, dass die Kriegsgefangenen besonderen, sehr restriktiven Bedingungen ausgesetzt waren.“ In den ersten beiden Monaten des Jahres 1945 räumte die SS nicht nur das Vernichtungslager Auschwitz und andere Lager, als sich ihnen die Rote Armee näherte. Zahlreiche Häftlinge wurden auf Transport in die KZ nach Mitteldeutschland geschickt, erst mit Güterzügen, bei Kriegsende fast nur noch mit den berüchtigten Todesmärschen. Zielrichtung war meist das große KZ Buchenwald mit seinen immer größer werdenden Außenlagern, wie das KZ-Frauenaußenlager Meuselwitz. Durch diese Transporte starben noch unzählige der geschundenen und entkräfteten Häftlinge, vor allem die sehr schlecht behandelten sowjetischen Kriegsgefangenen. Wer nicht mehr laufen konnte, wurde von den SS-Begleitkommandos am Straßenrand erschossen. In dieser Zeit des völlig überbelegten Lagers Buchenwald und seiner Außenlager leitete die SS Tausende Häftlinge weiter in Richtung der KZ in Deutschlands Süden. In diesen Wochen des nahenden Kriegsendes stellte die SS auch einen Güterzug mit Häftlingsfrauen aus den Lagern Ravensbrück, Buchenwald und Meuselwitz zusammen. Ziel: das KZ Flossenbürg, ungefähr 100 km südlich von Karlsbad in den Sudeten. Auf diesen Transport mit unbekanntem Schicksal gehen mussten auch Farida und ihre sowjetischen Mithäftlingsfrauen und Freundinnen Lilja LEBEDJEWA, Nina SASONOWA, Maria STEPANOWA, Rema JEWSEJEWA und die erst 19jährige Soja WASSILJEWA. In der Umgebung von Karlsbad geriet der Häftlingszug in einen Angriff durch wahrscheinlich US-amerikanische Tiefflieger. Die SS flüchtete, um sich in Sicherheit zu bringen, und überließ die in den Waggons eingesperrten Frauen ihrem Schicksal. Zahlreiche Waggons wurden durch Bomben getroffen, nicht wenige Frauen starben oder wurden verletzt, auch zwei von Faridas Freundinnen erlitten Verletzungen. Vor allem Maria zog sich schwere Verbrennungen durch eine Phosphorbombe zu, unter denen sie auch in späteren Jahren litt. Die Frauen der Waggons, die beim Luftangriff beschädigt wurden, nutzten die Chance zur Flucht, zahlreiche Häftlingsfrauen zerstreuten sich in alle Himmelsrichtungen in die umliegenden Wälder. Die SS machte danach Jagd auf die entflohenen Frauen. Viele kamen dabei ums Leben. Auch Farida und ihre Freundinnen und mit ihnen die polnische Jüdin Felicja ANGERMAN und die polnischen Häftlingsfrauen H. KOZIERAS und J. MIERZWA liefen stundenlang durch die Wälder in der Hoffnung, irgendwie zu den Vorauseinheiten der Roten Armee zu gelangen, ohne zu wissen, wo sich diese befanden und ob sie überhaupt dorthin kommen könnten. Um weg vom bombardierten Zug zu kommen und ihre Spuren zu verwischen, liefen die Frauen in den Wäldern durch Bäche. Nach vielen Kilometern gelangten die von Hunger entkräfteten und völlig erschöpften Frauen beim Umherirren zum Horner Berg zwischen Karlsbad und Ellbogen an der Eger. Hier lebten zwei Familien. Sie bewohnten jeweils ein kleines Häuschen in der Nähe eines Waldes, abseits von bewohntem Gebiet. Bei den Häuschen stand eine gemeinsam genutzte Scheune. Häuschen und Scheune gehörten Wenzel Schindler (6.4.1887–11.12.1951), einem langjährigen deutschen Mitglied der illegalen KPČ, und dessen Schwiegersohn, dem jungen Sozialdemokraten Franz Čihar (1908–1974). In dem einen Hause lebten Wenzel und Marie Schindler (2.12.1887–6.12.1948) mit ihren Töchtern Hilde (19…) und Irene („Reni“; 15.6.1922–18.12.2003) und mit den Enkeln Hanna (neun Jahre) und Uschi (dreieinhalb Jahre), Hildes Kindern. Im Hause Čihar lebten Franz und seine Frau Gertrud Čihar („Trudi“; 22.7.1911–1987) mit ihren Kindern Sonja (vier Jahre) und Franz (eineinhalb Jahre). Wenzel Schindlers Tochter Reni, später verheiratete Misch, die Mutter von Dr. Tatjana Weber, lief mit ihrem Hund auf dem Weg zu ihrer Schwester Trudi durch einen Birkenwald, als ihr Hund bei seinen Schnüffeleien etwas in der Nähe einer tiefen Grube bemerkte. Dort kauerten eng aneinander geschmiegt sechs der Frauen, um sich auszuruhen. Ihre Kleidung war teils zerrissen und Irene bemerkte, dass zwei von ihnen offensichtlich verletzt waren. Die anderen Frauen hockten, von Reni unbemerkt, in einem anderen Versteck. Irene Misch berichtete Jahre später darüber: „Mich verwunderten die vor Hilflosigkeit weit aufgerissenen Augen, die vor Kälte blauen Füße, die mit Dreck und Ruß beschmierten Hände. Das sind Flüchtlinge! Man muss ihnen helfen. Andere Gedanken hatte ich nicht. Wie ich konnte, im Wesentlichen durch Zeichen mit den Fingern, bat ich sie, leise zu sein und auf mich zu warten.“[5] Reni rannte nach Hause und berichtete zuerst dem Vater und dem Schwager, dann beriet man in größerer Runde, wie sie erzählte: „Der Familienrat war außergewöhnlich kurz. Gertrud sagte gleich nach ihrem Mann: »Ja, wir müssen ihnen helfen. Wie sollen wir sonst leben? Wie den Kindern in die Augen sehen?“ Der Familienrat beschloss, alle neun Mädchen aufzunehmen und vorerst auf dem Heuboden zu verstecken, Lebensmittel zu organisieren und neue Kleidung. Allen war bewusst, welches Risiko damit verbunden war: Sie nahmen die Todesgefahr auf sich. Niemand wusste, ob die SS nicht schon bald auch bei ihnen nach den Geflohenen suchen würde, dann wären alle sofort erschossen oder erhängt worden. Als es dunkel geworden war, holten Trudi und Franz Čihar die Mädchen ins Haus. Maria Stepanowa berichtet später über diesen Moment: „Die ersten Minuten, die ersten Worte und wir hatten den Eindruck, uns schon sehr lange zu kennen. […] Gertrud und Irene machten Wasser warm, brachten saubere Wäsche, gaben uns zu essen, was sie konnten. Ein Nachtlager bereitete Franz auf dem Heuboden […]“. Farida hat die Situation später so formuliert: Es war ihr neuer Geburtstag, als sie der Familie Schindler-Čihar begegnete. In einer Analyse heißt es über Farida – und analog für mehr als ein Dutzend russischer und deutscher Menschen – in dieser tatsächlich äußerst gefährlichen Episode recht lapidar: „Nach der Flucht vom Todesmarsch findet sie Unterschlupf auf einem Bauernhof.“[6] Es war aber kein Bauernhof, sondern zwei bescheidene Häuschen mit einer kleinen Scheune und einer Milch liefernden Ziege, ein paar Hühnern und dem Hund, der die Frauen entdeckt hatte. Wenzel Schindler war ein kleiner Bankangestellter und hatte sein bescheidenes Haus mit großen Mühen selbst gebaut, wo einst eine Jagdhütte stand. Franz Čihar ging es nicht anders. Auch diesen kleinen Wohlstand setzten sie aufs Spiel und das Leben aller. Aber niemand fragte oder suchte in der folgenden Zeit nach geflüchteten KZ-Frauen. So vergingen die Wochen; alle mussten sich, was das Essen betraf, einschränken, um die geflohenen Frauen mit durchzubringen. Ohne die im Sommer dank dem kleinen Garten angelegten Vorräte wäre das unmöglich gewesen. Aber vor allem war es für alle Beteiligten eine Zeit höchster nervlicher Anspannung. Jedoch selbst die neunjährige Hanna war ungewöhnlich ernst für ihr Alter und hat sich nie verplappert, wenn andere Leute auf das Anwesen kamen. Die kleinen Kinder konnten noch nicht wissen, was damals geschah. Die Todesgefahr sollte kurz vor Kriegsende noch einmal für alle sehr real werden, als einige von ihrem Kampfverband versprengte SS-Leute, die allerdings nichts von den Geflohenen des Todesmarsches wussten, auf das Anwesen kamen und Essen und Trinken verlangten. Alles Essbare im Haus wurde aufgeboten, auch aller Alkohol, um die Männer ruhig zu halten, sodass niemand auf die Idee kam, den Heuboden zu inspizieren. Am nächsten Morgen verschwand die SS-Truppe wieder, nicht ahnend, wer sich außer den Schindlers noch auf dem Anwesen befand. So vergingen die letzten Tage bis zur endgültigen Kapitulation der Wehrmacht. Die Gefahr blieb trotzdem, denn nach wie vor trieben marodierende Wehrmachts- und SS-Einheiten, die sich zu den Amerikanern absetzen wollten, ihr Unwesen, darunter die Kollaborateure der sogenannten „Wlassow-Armee“, die besonders „gut“ auf sowjetische Kriegsgefangene zu sprechen waren. Wenzel Schindler hatte inzwischen in Erfahrung gebracht, wo sich die Vorauseinheiten der Roten Armee befanden. Zum Abschied und als Dank fertigten Farida und ihre sowjetischen Freundinnen Lilja, Nina, Maria, Soja und Rema ein Dokument für ihre Retter an: Eine in einem Metallrahmen gefasste russischsprachige Danksagung der sowjetischen und polnischen Frauen an ihre Retter-Familie Schindler, versehen mit ihren Unterschriften. Die Übersetzung lautet: „Es lebe die Kommunistische Partei. Zur ewigen Erinnerung für die Familie Schindler von den Freunden aus dem Osten: L. Lebedjewa N. Sasonowa H. Kozieras J. Mierzwa S. Wassiljewa M. Stepanowa R. Jewsejewa F. Saliksjanowa Angerman Felicja Horn, 11. Mai 1945.“ Das ist das einzige 1945 verfasste Dokument über die Rettungsaktion. Es ist im Besitz von Dr. Tatjana Weber und wird behütet wie eine Familienkostbarkeit. Die Geretteten machten sich nach langer Zeit ihres Martyriums dann Mitte Mai 1945 auf den Weg nach Hause. Die sechs sowjetischen Freundinnen natürlich zu ihren Landsleuten der Roten Armee. Die Polinnen Felicja Angerman, H. Kozieras und J. Mierzwa wollten sich zu den Amerikanern durchschlagen. Von ihnen fehlt seitdem jede Spur: Trotz intensiver Suche hörten weder die sowjetischen Freundinnen noch die deutschen Familien je wieder von ihnen. Farida, Lilja, Nina, Maria, Soja und Rema, die durch deutsche Schuld so viel durchleiden mussten, letztlich durch Deutsche gerettet wurden und die sich mit ihren Rettern einig waren, sich wieder zu sehen, führte der Weg zu ihren Landsleuten nicht in die Freiheit und zu einer Belohnung für ihre Treue zur Heimat, sondern in ein Untersuchungslager des NKWD. Und dann für Jahre in ein stalinistisches Straflager. Wie fast alle Deutschen in den Sudeten mussten auch die Familien Schindler und Čihar entsprechend der alliierten Beschlüsse ihre alte Heimat verlassen. Sie fanden eine neue in Thüringen, ohne je ihr Schicksal zu beklagen, wussten sie doch Ursache und Wirkung rational zu begreifen: Hitlerdeutschland trug unsägliches Leid über die Völker Europas. Diese Schuld schlug dann auf die Deutschen zurück. Aber alle Mitglieder der Familien haben das Beste aus den neuen Bedingungen gemacht. Sie wurden anerkannte Bürger der DDR, ihre Kinder lernten gut und die meisten studierten. In den 1950er Jahren begann dann ihre Suche nach den einst geretteten Frauen. Irene Schindler, verheiratet Misch, und ihre Nichte Hanna vermochten aber nicht, den Kontakt zu den Frauen in der UdSSR herzustellen. Vergebens waren alle Bemühungen bis Mitte der 1960er. Erst Ende der 1960er Jahre gelang es den Familien Schindler-Čihar-Misch dank der Unterstützung durch das Internationale Rote Kreuz, endlich das sehr emotionale Wiedersehen zu erreichen, erst 1969 in Berlin und Eisenach, später dann in Moskau und Leningrad. Farida arbeitete da bereits seit Jahren wieder als Innenarchitektin und war Mitglied im Komitee der sowjetischen Kriegsveteranen. Später folgte sie immer wieder regelmäßig Einladungen zu den Gedenkfeiertagen nach Deutschland. Sie ist seit Jahrzehnten Mitglied der Vereinigungen der ehemaligen Häftlinge des KZ Ravensbrück und des KZ Buchenwald. Bis ins hohe Alter hielt sie bei ihren Aufenthalten in Deutschland Vorträge vor deutschen Jugendlichen. Und sie ist seit Jahrzehnten hochgeehrtes Mitglied der Familien Misch-Weber.
Fußnoten: [1] Zitat und nachstehendes Bild: Thüringer Landeszeitung, 28.12.2016 (www.tlz.de › leben › buchenwald-1937-bis-1945-die-wei...). [2] Faridas Bericht ist zitiert nach: 68. Jahrestag Selbstbefreiung der Häftlinge des KZ Buchenwald 2013. Lagerarbeits-gemeinschaft Buchenwald-Dora e. V., S. 88–89 (www.docplayer.org/49536194-68-jahrestag-selbstbefreiung-der-haeftlinge-kz-buchen wald-lagerarbeitsgemeinschaft-buchenwald-dora-e-v.html). [3] Farida spricht hier immer von „uns Kriegsgefangenen“ und meint damit die weiblichen sowjetischen Gefangenen, die von der SS immer viel schlechter als andere Häftlinge behandelt wurden. [4] Farida meint hier wieder die weiblichen sowjetischen Kriegsgefangenen. [5] Dieses Zitat und die folgenden nach: „Es gibt eine Adresse in Deutschland …. Erzählung über eine Heldentat einfacher Deutscher in den Jahren des Krieges“. In: Der rote Kämpfer, 4.10.1989 (russ.), Übersetzung Dr. Tatjana Weber. [6] Analyseprotokoll zur qualitativen Inhaltsanalyse des Geschichtsnarrativs in der Gedenkstätte Buchenwald (www.kuwi.europa-uni.de/de/studium/master/es/MES-Publikationen/MES-Perspektiven/Anhaenge/AnhangA_Buchenwald). Bildquellen: Bild 1, 13, 14: Bevollmächtigte Vertretung der Republik Tatarstan in der Russischen Föderation (https://tatmsk. tatarstan.ru) Bild 3-14: Privatarchiv Dr. Tatjana und Dr. Dieter Weber, Oy-Mittelberg/Oberallgäu
1 Kommentar
Ronny
2/5/2023 09:57:30
Sehr interessanter Artikel, vorallem wenn es irgendwie die eigene Familiengeschichte ist. Johanna Schulz war meine Oma und Uschi meine Großtante, Bild 3.
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