Manfred Grätz, 2019 Manfred Grätz, geb. 1935, ehem. Angehöriger der NVA, Generalleutnant a.D., zuletzt Stellvertreter des Ministers für Nationale Verteidigung, Chef des Hauptstabes
Ich bin in einer politisch interessierten linksorientierten Arbeiterfamilie unter einfachen Verhältnissen aufgewachsen und erzogen worden. Das Ende des Krieges, der mir den Vater nahm, herbeisehnend und schließlich als Befreiung erlebend, wandte ich mich nach 1945, damals noch intuitiv, allem Neuen zu. „Es kann nur besser werden“, so lautete meine Devise. Pionierorganisation und FDJ waren die ersten politischen Betätigungsfelder. Mein Beitritt zu den Bewaffneten Kräften der im Jahr 1949 gegründeten DDR war ein bewusstes Bekenntnis, an der Seite des Landes, welches unter unsäglichen Opfern Deutschland von der Nazibarbarei befreit hatte, meinen Beitrag zur Erhaltung des Friedens zu leisten. Ein Studium an einer sowjetischen Militärakademie von 1955 bis 1959 führte mich nach Moskau. Es waren lehrreiche, prägende, interessante Jahre, die bis dahin wohl wichtigsten in meinem Leben. Ich erfuhr eine erste militärakademische Ausbildung und begriff die Grundlagen der Militärwissenschaft. Zehn Jahre nach den amerikanischen Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki hörte ich Konkretes über Kernwaffen und andere Massenvernichtungsmittel und begriff ihre unvorstellbare Vernichtungskraft. Ich bin mir sicher, dass mein späteres Credo, „alles dafür zu tun, dieses Wissen niemals in der Praxis anwenden zu müssen“, hier seinen Ursprung hatte. Aber es war nicht das Studium allein, was diese ersten vier Jahre in Moskau prägte. Ich habe in diesen Jahren die Menschen, die russische Seele (der Begriff „russkaja duscha“ trifft es trotz wörtlicher Übersetzung besser), die sprichwörtliche russische Gastfreundschaft, die Liebenswürdigkeit und Unkompliziertheit der Menschen auch Fremden und Unbekannten gegenüber, kennen, schätzen und lieben gelernt. Ich habe den Stolz und die Begeisterung erlebt, mit denen einfache Menschen zur damaligen Zeit von ihrer Heimat, ihrem Land sprachen. Ich habe sie aber auch kennengelernt mit menschlichen Schwächen. Das alles zusammengenommen war für mich das Großartigste, was mir zu jener Zeit widerfuhr. Es waren die Menschen, die mir schon damals Moskau zur zweiten Heimat werden ließen. Mit der Stadt, mit ihrer reichen Kultur, mit ihren Sehenswürdigkeiten, immer wieder verbunden mit unvergesslichen herzlichen Begegnungen, habe ich mich identifiziert, es war mein Moskau. Zwölf Jahre später, im Jahre 1971, begann mein zweiter längerer Aufenthalt in Moskau, das Studium an der Akademie des Generalstabes, diesmal mit meiner Familie, Ehefrau und drei Kindern. Eine neue Herausforderung, neben meinem Studium war für sie das Einleben und Eingewöhnen in den Moskauer Alltag. Im Vordergrund stand das Erlernen der Russischen Sprache für alle Familienmitglieder, vor allem aber für unseren ältesten Sohn, der die 7. Klasse einer russischen Schule besuchen musste. Es war qualifizierte Hilfe gefragt. Eine Russischlehrerin der Akademie erklärte sich bereit, in ihrer Freizeit, an einigen Nachmittagen, vorrangig unserem Ältesten zu helfen, um die Sprache schneller zu erlernen. Das realisierte sie mit viel Geduld sehr erfolgreich und half auch den anderen Familienmitgliedern beim Erlernen der Sprache. Violetta Michailowna Danilowa zeichnete sich dabei durch Bescheidenheit, Zurückhaltung und viel pädagogisches Geschick aus und gehörte schon bald zur Familie. Sie hat uns 1987 gemeinsam mit ihrer Tochter Lena in Strausberg besucht, und 2011 gab es in Moskau noch einmal ein freudiges Wiedersehen. Auch die Verantwortlichen unserer Akademie scheuten keine Mühe, unternahmen sehr viel, damit wir Moskau und seine Umgebung, das „Podmoskowje“, nicht nur kennen-, sondern auch schätzen lernten. Es verging kaum ein Wochenende, an dem wir nicht Gelegenheit hatten, uns mit den vielen Sehenswürdigkeiten vertraut zu machen. Wir empfanden es als wohltuend und nutzten es dankbar. Es war für uns die Möglichkeit, Menschen kennenzulernen, Freundschaften zu knüpfen und im wahrsten Sinne des Wortes „heimisch“ zu werden. Und mein Studium selbst? Es war zum damaligen Zeitpunkt die perfekte Qualifizierung für die Weiterentwicklung meiner militärischen Laufbahn. Nach erfolgreicher Stabsarbeit war es mein Wunsch, in der Truppe meinen Dienst in verantwortlichen Positionen fortzusetzen. Mit Abstand betrachtet, das sage ich nicht erst heute, hat mir die „ Akademija Genschtaba“ (Akademie des Generalstabes) viel mehr gegeben hat als nur ein militärisches Rüstzeug. Die Einblicke in globale Zusammenhänge, Kräfteverhältnisse und daraus resultierende strategische Erwägungen einer Auseinandersetzung zwischen den Großmächten, unter Nutzung des Kernwaffenpotenzials und anderer Massenvernichtungsmittel, schärften meinen Blick, und machten die Verantwortung deutlicher, die ich als Soldat habe. Das Kennenlernen doktrinärer Auffassungen der beiden globalen Bündnisse regte mich zum Nachdenken an und festigte meine Grundhaltung: Es durfte keinen globalen Krieg geben! Das ging einher mit der persönlichen Schlussfolgerung, noch mehr und noch gründlicher dafür einzustehen, niemals das in der Praxis anwenden zu müssen, was ich an zwei Militärakademien gelernt hatte. Es stimmt mich im Alter froh und ich bin darauf stolz, dass ich in verantwortlichen Funktionen dazu beitragen konnte, dass die Nationale Volksarmee keinen Krieg führte. Die Jahre bis zum Ende meiner Dienstzeit 1990, identisch mit dem Ende der DDR und der NVA, führten mich in verschiedenen Funktionen nach Potsdam, Schwerin, Neubrandenburg, Leipzig und zurück nach Strausberg. Es gab stets die Gelegenheit, die Waffenbrüderschaft mit „unseren Freunden“, wie wir umgangssprachlich die Angehörigen der Sowjetarmee nannten, im wahrsten Sinne des Wortes zu erleben. Sowohl in Krampnitz als auch im Olympischen Dorf Elstal, in Schwerin oder Fürstenberg, in Nora oder in Wünsdorf – überall gab es freundschaftliche Begegnungen der verschiedensten Art, Erfahrungsaustausche, Wettbewerbe, gemeinsame Übungen. Ein Ereignis ist mir in besonderer Erinnerung geblieben, auch oder eben weil es nicht zu den angenehmsten gehörte: die Teilnahme an einer wissenschaftlichen Konferenz des Militärrates des Warschauer Vertrages anlässlich dessen 35. Jahrestages im Mai 1990. Mein Beitrag auf dieser Konferenz befasste sich mit der Haltung der DDR und der NVA zur sich damals abzeichnenden staatlichen Vereinigung der beiden deutschen Staaten und den daraus resultierenden Konsequenzen. In der zu diesem Zeitpunkt ebenso brisanten wie unklaren politischen Lage war das eine sehr komplizierte Aufgabe! Ich sprach erstmals von der Möglichkeit des Ausscheidens der DDR aus der militärischen Organisation des Warschauer Vertrages im Falle der Vereinigung beider deutscher Staaten. Ich gestehe, dass mir das nur schwer über die Lippen kam und viele Emotionen dabei mitschwangen. Damals ahnte ich noch nicht, dass diese Ankündigung bereits nach fünf Monaten Realität werden sollte! Anfang Mai 2011 waren 21 Jahre waren vergangen, seit ich das letzte Mal in Moskau war. Die Sowjetunion und den Warschauer Vertrag gab es nicht mehr, die DDR und unsere NVA waren Geschichte. Wir lebten in einer anderen Welt. Das erfuhr ich auch bei meinen Spaziergängen durch die Stadt. Moskau hatte sich in eine moderne, pulsierende kapitalistische Großstadt verwandelt, in der das historische Zentrum mit dem Kreml und der Basilika einen ruhigen Mittelpunkt darstellt. Bei einem abendlichen Spaziergang fand ich die längst verschwundene Melodie des Liedes „Moskauer Nächte“ (Podmoskownye wetschera) wieder, die mich in besonderer Weise mit dem Land und seinen Bewohnern verbindet. Um so schmerzlicher ist es für mich, miterleben zu müssen, dass heute wiederum Truppen mit deutscher Beteiligung an der Grenze zu Russland stehen, an der Grenze jenes Landes, das uns unter unsäglichen Opfern vor nunmehr fast 75 Jahren den Frieden brachte. Mögen all jene, die bar jeder Vernunft erneut mit dem Säbel rasseln und Russland als „Aggressor“ auserkoren haben, begreifen, dass nur ein friedliches Miteinander zum Ziel führt. Frieden kann es nur mit und niemals gegen Russland geben.
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