Dieter Seeger, 2010-2016Dieter Seeger, Jahrgang 1934, lebt in Rathenow. In dieser Gegend erlebte er auch das Kriegsende. Er erlernte den Beruf eines Stahlbauschlossers, arbeitete später an einer Schule als Pionierleiter der Freundschaft „Walentina Tereschkowa“ und als Lehrer. Er ist kommunalpolitisch engagiert, so trägt er als Lokalhistoriker Geschichten über deutsch-sowjetische Begegnungen zusammen. Nach dem Ende der Kämpfe um Rathenow kehrten wir Anfang Mai 1945 in die Stadt zurück. Sie war zu über sechzig Prozent zerstört, manche Ruinen brannten noch, aber fast alle Toten waren schon begraben: Zunächst behelfsmäßig am Straßenrand, in Anlagen oder Gärten. Der sowjetische Stadtkommandant befahl nun die Bergung, und neben den Rotarmisten mussten alle überlebenden Zivilisten als Totengräber arbeiten. Beinahe 500 sowjetische, ebensoviele deutsche Soldaten und mindestens 300 Einwohner waren ums Leben gekommen. Die Rote Armee zäunte auf dem Reitweg des Ebertrings am Fontanepark einen Friedhof ab, Obelisken wurden errichteten. Erst später entstand der Ehrenfriedhof an der Philipp-Müller-Straße. Die toten Deutschen kamen auf den Weinbergfriedhof. Viele Todesopfer wurden als „Unbekannt“ beigesetzt. Wir hatten Glück. Unser Haus stand noch, das von zwei Dritteln der Rathenower nicht mehr. Aber die Quartiermacher der Roten Armee beschlagnahmten die Häuser der Güntherstraße, und wir suchten uns eine andere, leerstehende Wohnung. Am Eingang unserer Straße versperrte nun ein Schlagbaum mit Posten den Zugang zum Zuhause. Wir Jungen langweilten uns, der Posten langweilte sich. Er hatte so ganz kleine Rommékarten von irgendwoher mitgenommen, die dienten der Annäherung bei einem improvisierten Spiel. Der Soldat bot uns Machorka an. Aber sein Glimmstengel, eine zum „Ziegenbeinchen“ gedrehte „Prawda“, qualmte und stank bestialisch. Da konnte man nur verzichten. Nach ein paar Tagen war der Posten weg, und wir wagten uns hinein in das „Sperrgebiet“. Die Militärs waren abgezogen und hatten allerhand mitgenommen. Aber unsere lieben Landsleute waren auch schon auf Beutezug durch die rückwärtigen Gärten gewesen, manches Wäschestück kam uns später auf fremden Leinen sehr bekannt vor. Nach wenigen Tagen standen morgens erneut Soldaten am Bett. Unsere Wohnung, zwei Zimmer und Küche, sollte für sowjetische Offiziere geräumt werden. Die Mutter lehnte sich auf, verwies auf uns vier Kinder. Wie sollten wir oben in den eineinhalb Zimmern von Opa unterkommen? Der Quartiermacher hatte Einsicht. Er beschlagnahmte die obere Wohnung, Opa musste in die kleine Stube ziehen, einen ausgebauten Stall. Nebenan bei Frau Busch zog ein Leutnant ein, der sich später nach einer bei unserem Hauptmann durchzechten Nacht erschoss. Tags darauf war Ausnahmezustand, schwarzen Limousinen brachten Untersuchungspersonal. Ein Mord bestätigte sich nicht. Unsere Einquartierung hieß Wladimir Nasarowitsch Jegorow, war Hauptmann (Kapitan) der Artillerie, im Zivilberuf Ingenieur und kam aus Leningrad. Seine Batterie hatte, wie er beiläufig erwähnte, den Kirchturm in Brand geschossen. Seine Ordonnanz oder „Mädchen für alles“ war Sergeant und hieß Pjotr. Er schlief in der Kaserne. Wladimir (wir sagten Waldemar) wohnte knapp zwei Jahre bei uns. In dieser Zeit wurde aus der anfänglichen Distanz im Alltag Freundlichkeit und Vertrautheit. Natürlich kam immer wieder die Angst durch, wenn die Offiziere wild feierten und sich für uns so fremd gaben. Einmal hantierte Wladimir im Suff mit der geladenen Pistole. Der Schuss ging in Opas Kleiderschrank. Von da an sorgte die Ordonnanz Petja vor: Er nahm bei Beginn der Besäufnisse die Patronen aus dem Magazin. Silvester 1945, ich wurde an diesem Tag elf Jahre alt, begingen die Offiziere bei uns in der oberen Wohnung den Jahreswechsel mit vielen Trinksprüchen, deren Ende die Russen im Chor sprechen, wie wir in dem hellhörigen Haus gut verfolgen konnten. Kurz vor 22 Uhr stampften die Stiefel durchs Treppenhaus. Unsere Familie wurde auf die Straße gebeten. Es war kalt, der Hauptmann legte unserer Mutter seinen Offiziersmantel um die Schultern. Das war ihr sichtlich peinlich, so vor allen Leuten. Aber schon wurden die Leuchtpistolen abgeschossen: „S nowym godom, s nowym stchastjem!“ Ein Streifschuss hatte am Hals des Hauptmanns Spuren hinterlassen. Wie er erzählte, war seine Batterie beim Vorrücken in einen Hinterhalt geraten. Die Narbe schmerzte wohl, wenn der Hals bei Alkohol, Gesängen und Tänzen anschwoll. Dann waren wir „Faschisten“ und „Faschism muss kaputt!“ Aber nach solch einem Abend war er meist besonders freundlich und er kümmerte sich auch um unseren Brotkasten. Mein Bruder Klaus und ich konnten dann in der Kaserne Brot, Butter und Wurst abholen. Wenn die Offiziere ihre Feste feierten, wurden reichlich Speisen und viel Wodka aufgetischt. Die Ordonnanzen bereiteten die Gelage den ganzen Tag lang vor, und natürlich wurde alles auf Geschmack „geprüft“. Die Burschen machten ihre Vorausparty. Ich wuselte um sie herum und kriegte den einen oder den anderen Happen ab. Dann war alles fertig, der Tisch weiß gedeckt, das Geschirr und die Gläser aufgestellt, Essen und Trinken in der Küche bereitgestellt. Die drei, vier Sergeanten tuschelten miteinander, und dann platzierte Petja mich auf der Couch. Einer goss Schnaps in das Weinglas – unter „sto gramm“ machten sie es nicht – und befahlen mir zu trinken. Ich weigerte mich. Ich war doch erst zwölf! Da legten sie mir Speck, Zwiebeln und Gurke auf den Teller: Das gehöre dazu. Ich aß zögernd, und richtig: Sie nötigten mich wieder, zu trinken. Mit energischem Zureden „du Mann, Mann muss trinken, wsjo!“ brachten sie mich dazu, das Glas auf einen Zug zu leeren. Ich hielt mich für freigekauft, besser freigetrunken, aber das war ein Irrtum. Schließlich hatte ich reichlich Wodka intus. Da erschien meine Mutter auf dem Plan. Sie machte ein Riesengezeter. Die rauhen Burschen lachten, und ich schwebte die Treppe hinunter ins Bett – und wollte sterben. Ich schwor mir: Nie wieder Wodka! Als der Hauptmann wieder einmal Gastgeber war, wollten die Burschen das Spiel wiederholen. Sie lockten mich nach oben, aber ich weigerte mich standhaft. Als sie merkten, dass ihr Spaß ausblieb, schnappten sie mich an den Beinen und hielten mich kopfüber hoch. Einer nahm das gefüllte Glas und goss es mir ins Hosenbein. Da hatte ich meine Party! Der Lacherfolg bei den Soldaten war enorm. Abends ging es hoch her. Einer spielte wilde Weisen auf dem Akkordeon, die Männer spießten einen Artilleriesäbel in die Dielen und tanzten drum herum, immer wieder in die Hocke gehend: Kasatschok. Die Frauen, nach denen wir Jungen geschickt wurden, waren noch schneller betrunken als die Männer, und alle hatten ihren Spaß. Katja und die anderen Gespielinnen bekamen manchmal auch Katzenjammer. Unsere Mutter tröstete sie. Der Hauptmann ging mit seinen Kameraden gern auf die Jagd. Wenn Wild erlegt wurde, bekamen wir unseren Teil. Einmal brachten sie ein Wildschwein in unsere Waschküche und zerteilten es. Unser „Kapitan“ erhielt das Kopfende. Aber mit dem Kopf konnte er nichts anfangen, er gab ihn uns. Mutter kochte daraus Sülze, die zwar wochenlang gereicht hätte, aber wiederum schnell verzehrt werden musste. Eine vertrackte Pflicht zum Vielessen, da vergeht der Appetit auf Sülze bald. Wladimir besaß eine Doppelflinte, die er sicher irgendwo erbeutet hatte. Auch ein Luftgewehr mit Knicklauf hatte er. Damit schoss er manchmal im Garten auf Spatzen. Nach einigem Bitten ließ er mich auch probieren. Das mit Kimme und Korn hatte ich schon heimlich mit Vaters Karabiner auf der Treppe geübt, wenn er auf Urlaub war. Wladimir wies mir als Ziel einen alten Eimer auf dem Hühnerhof zu. Ich zielte vorbildlich: Vom Auge über Kimme und Korn eine Linie - aber nicht zum Ziel, der Schuss verfehlte den Eimer deutlich. Der „Kapitan“ war enttäuscht und versagte mir eine Wiederholung. Jagdmunition gehörte nicht zu den Armeebeständen. Der Jäger musste selbst dafür sorgen. Eines Tages brachte der Hauptmann einen großen Bleiblock an. Petja musste mit dem Messer kleine Brocken abschneiden und sie in einer Trommel mühsam rund drehen. Das war sehr aufwendig, und die Schrotkörner waren ungleichmäßig, was für die Flugbahn ungünstig war. So ersann Wladimir eine neue Produktionsweise. Er versuchte mir zu erklären, was er brauchte, ging mit mir in den Keller und entdeckte dort ein paar alte Fahrradspeichen. Auf dem Hof entstand die Vorrichtung. Auf einen Eimer mit Wasser wurden die mit Lumpen umhüllten Fahrradspeichen als Rost aufgelegt. Dann kam Benzin auf die Lappen, der Bleiklotz drauf, Lappen anzünden – und schon tropften prima gleichmäßige Schrotkörner in das kalte Wasser und erstarrten. Hülsen hatte Wladimir, sie wurden mit Pulver und den Bleikörnern gefüllt, Pappdeckel drauf – fertig. Das Probeschießen fand sofort statt, die „Schießbahn“ führte vom Hof bis zum hinteren Gartenzaun. Statt einer Absperrung passte Pjotr auf, dass keiner in die Schusslinie geriet. Ich war dabei, ich gehörte dazu! Als Kapitan Jegorow im Spätsommer 1946 aus dem Urlaub mit seiner Familie nach Rathenow zurückkam, war seiner Frau Walentina das gute Verhältnis mit uns nicht recht. Walja wollte mit Deutschen nichts zu tun haben. Kam sie auch aus Leningrad? Hatte sie die Blockade miterleben müssen oder war sie über die „Straße des Lebens“ davon gekommen? Wir fragten nicht. Mein später gefallener Onkel Herbert hatte dort beim Aushungern der Bevölkerung mitgetan, sein Bild hing an unserer „Wand der Toten“. Und wir wussten damals noch nicht die ganze Wahrheit über die 900 Tage des Grauens in Leningrad. Jegorows Tochter Larissa war im gleichen Alter wie meine Schwester Ulla. Natürlich spielten die Mädchen miteinander, und sehr schnell sprach Larissa das Rathenower „Icke-dette-kieke-mal“ und konnte für ihre Mutter dolmetschen. So normalisierte sich auch ihr Verhältnis zu den verhassten Deutschen. Im Dezember beobachtete Larissa neugierig unsere Weihnachtsvorbereitungen. Als der Baum am 24. Dezember geschmückt war, staunte sie. Das russische Jolkafest war doch erst eine Woche später! In aller Heimlichkeit bereiteten wir eine Überraschung für sie vor. Unsere Mutter hatte die Idee, Ullas große Puppe als Weihnachtsmann zu verkleiden. Sie nähte aus entsprechenden Flicken Mütze und Mantel, und ich klebte den Bart aus Watte. Am 31. Dezember stellten wir ihn unter die Neujahrstanne der Jegorows. Larissa freute sich sehr über „Djed moros“, also Väterchen Frost, der ja den russischen Kindern die Geschenke bringt. Walja fand es rührend, wie man an ihrer Reaktion merkte. Es bröckelte wieder ein bisschen von ihrer Reserviertheit, und Wladimir fühlte sich wohl bestärkt in seinem offenen Verhältnis zu uns. Als 1947 im Rathenower Krankenhaus Töchterchen Galina geboren wurde, wickelte Walja das Kind nach alter Sitte bis zum Hals fest ein. Unsere Mutter versuchte ihr vorsichtig beizubringen, dass die Kleine Luft und Bewegung braucht, es war ja die warme Jahreszeit. Und da Walja selbst schwitzte, gelang die Überzeugung. Die Jegorows gehörten zwei Jahre lang zu unserem Alltag. In dem Siedlungshaus waren die Wohnungen zum Treppenhaus offen, da ging man zwanglos zueinander, wenn man ein Anliegen hatte. Wir Kinder der beiden Familien spielten im gesamten Haus, in beiden Wohnungen. - 1947 zogen die Jegorows aus. Ein Teil der Offiziere war demobilisiert worden und ging in die Sowjetunion zurück, unser „Kapitan“ wurde auf den Truppenübungsplatz Altengrabow kommandiert, und wir hörten nichts mehr voneinander. Bis im Sommer 1959 ein Jeep vorfuhr. Ich kam zufällig dazu, als Wladimir ausstieg. Nach der staunenden Begrüßung – es waren ja zwölf Jahre vergangen – kamen die mitgebrachten „Herzhaften“ auf den Tisch: Speck, Brot, Wurst, Zwiebeln, Wodka. Wir erzählten uns gegenseitig, was uns die vergangenen Jahre gebracht hatten. Wladimir Jegorow sprach darüber, dass er eine schwierige Tätigkeit im zivilen Bereich aufnehmen solle. Vielleicht würde es in seiner Heimatstadt Leningrad sein? Herzlich nahmen wir Abschied. Etwa ein Jahr später suchte Wladimir Kontakt zu uns. Der Brief kam aus der moldawischen Hauptstadt Kischinjow. Ich schrieb und erhielt auch noch Antwort, aber dann versiegte der Austausch „in den russischen Weiten“.
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