Siegfried Kuntsche, 2019Dr. Siegfried Kuntsche, Jahrgang 1935, Historiker und Archivar, Prof., 1980-1993 Bereichsdirektor am Institut für Agrargeschichte der Akademie der Landwirtschaftswissenschaften der DDR, 2008-2013 Vorsitzender der Gesellschaft für Politik- und Sozialgeschichte Mecklenburg-Vorpommern. Frauentag, 8. März 1977. Der Frauenausschuss der Bezirksverwaltung und das Frauenkomitee der Sanitätskompanie des Militärkrankenhauses der Sowjetarmee an der Goethestraße in Schwerin bereiteten eine gemeinsame Feier vor. „Herta, deine beiden Töchter sind doch in der Schule für erweiterten Russischunterricht. Könnten sie etwas in Russisch vortragen?“ So kam es, dass meine Frau Herta mit Katja bekannt wurde, die das Frauenkomitee im Krankenhaus leitete. Es stellte sich heraus, unsere Kinder waren im gleichen Alter. Zunächst lud uns die Familie zum Mittagessen in ihre Wohnung im Lobedanzgang ein. Es gab Pelmeni. Die Kinder beschäftigten sich miteinander. Dann kam der 7. Mai 1977. Herta schrieb in ihr Tagebuch: „Wir besuchten Familie S., bekamen wieder Pelmeni und Wodka (einen braunen, 60-prozentigen). [Tochter] Galja spielte uns auf dem Klavier vor und [Ehemann] Mischa – gut in Form - spielte den „Flohwalzer“. Wir bekamen Geschenke, was uns nicht ganz Recht war: einen Rasierapparat und zwei Kristallschälchen. Gegen 21 Uhr waren wir zu Hause.“ Zum Gegenbesuch holten unsere Töchter Serina und Judith (12 bzw. 9 Jahre) die Kinder Galja und Sascha vom Leninplatz ab. Herta hatte einen Schweinebraten zubereitet und es gab zur Freude der Kinder Schokopudding. Judith schenkte Sascha ihre beiden Tanzmäuse. So begann eine familiäre Freundschaft. Die Verständigung klappte schon recht gut. Schon in der Dorfschule hatte ich eine Begegnung mit der russischen Sprache: Puschkins „Märchen vom Zaren Saltan“ war Klassenlektüre in der 8. Klasse. In der Oberschule und während des Studiums wurde ich zunehmend mit dem Russischen vertraut. 1956 hatte ich zahlreiche Begegnungen mit Moskauer Bürgern, als ich Hamburger Studenten bei einer Studienreise begleitete. Der Kreml mit dem Mausoleum, die Zwiebeltürme der Basilius-Kathedrale sind mir in lebendiger Erinnerung. Mit der sowjetischen Offiziersfamilie S. feierten wir die Einweihung unserer „Datscha“. Wir hatten von der Reichsbahn ein nicht mehr benutztes Streckenwärterhaus erworben. Wir tranken Tee aus dem Samowar, ihrem Geschenk. Bei einem weiteren Besuch nagelte Mischa mit mir die Zaunlatten an unseren „Jägerzaun“ an. Als Bauernjunge wusste er mit der Sense umzugehen und mähte die Rasenfläche. Wir gingen auch gemeinsam in die Pilze. Häufig machten wir sonntags Ausflüge in die Warnowwiesen bei Kritzow zum Picknick mit Schaschlik, sauer eingelegtem Kohlkopf und Wodka. Ballspiele im Freien machten allen viel Spaß. Herta blieb allerdings ein besonderes „Andenken“: sie trat fehl und brach sich ein Knöchelgelenk. Wir fuhren auch gemeinsam an die Ostsee. Als die Schulklasse unserer Tochter Serina gemeinsam in einer Gaststätte die Jugendweihe feierte, war die befreundete Familie S. mit dabei. In besonderer Erinnerung ist uns ein Silvesterabend im Kreis der Offiziere der Sanitätskompanie geblieben. Nie in meinem Leben habe ich so viel Alkohol getrunken wie in dieser Nacht – aber ohne schlimme Folgen. Ein Glück, es war ein üppiges Abendessen mit fettem Karpfen und mit reichlich Sauerkohl und Brot. Die Stimmung war locker, aber bei einigen Offizieren spürte ich, diese Einladung durch den Politoffizier war einigen nicht ganz recht. Der Geschichtsvortrag im Haus der Offiziere am Leninplatz, den Mischa organisieren wollte, kam nie zustande. Um drei Uhr nachts waren wir zuhause – dank eines „Sanka“. Ende 1979 wurde Mischa nach Wladiwostok versetzt. Lange Zeit hörten wir nichts voneinander. Im November 1992 kam ein Brief aus einem ukrainischen Dorf, 40 km nördlich von Dnepropetrowsk, gerichtet an meine Schwester in Erfurt: Wie kann ich Siegfried erreichen? Mischa konnte nicht wissen, dass wir seit 1980 in Berlin lebten. Wir schrieben einen Brief, berichteten von unserem Leben seit 1980 und erhielten von Mischa im Februar 1994 einen Brief mit Informationen über sich und die Familie. Mischa war nun in zweiter Ehe mit Olga, einer Krankenschwester, verheiratet. Nach einigen Telefonaten ging im Mai 1994 ein Brief ein. Hier berichtete Mischa ausführlich von seinem Leben in seinem Heimatdorf: „Als ich den Armeedienst beendete, organisierte ich hier im Dorf eine Kooperative und arbeitete. Du wirst wohl wissen, welche Umbrüche sich in der UdSSR und in den Ukraine vollziehen. Gegenwärtig fällt meine Kooperative auseinander. Nach und nach bearbeite ich 50 Hektar. Das ist aber sehr schwer. Mir fehlen Maschinen und Geräte. Auch werde ich älter und bin nun 57. Ich erhalte eine Armeepension in Höhe von 300 Griben. Im Vergleich dazu bekommen die ukrainischen Bürger nur 90 bis 100 Griben, aber ein Kilo Butter kostet 20 Griben.“ Der Brief enthielt eine Einladung zu einem Besuch. Die nahmen wir mit Freude an. Ende September 2001 fuhren wir mit der Bahn in die Ukraine. Bedrückende Gefühle kamen auf, als wir entlang der Strecke bis Dnepropetrowsk fast nur verlassene Industrieanlagen sahen. Die Felder waren in gutem Wirtschaftszustand, aber großflächig: Wer wirtschaftet hier und wer hat den Nutzen? Mischa holte uns vom Bahnhof ab und überreichte Herta einen Dahlienstrauß. Nach weniger als einer Stunde erreichte der PKW das Dorf und das von Mischa neu errichtete Haus mit Küche, Esszimmer und Sanitärraum in einem Anbau. Was uns sofort auffiel, war der riesige Nussbaum auf dem Hof, darunter ein meterlanger Bohlentisch mit Bänken beiderseits. Olga, Mischas zweite Ehefrau, begrüßte uns freundlich. Am Spätnachmittag kam die Familie mit Nachbarn zum Abendessen unter dem Nussbaum zusammen. Wir tauschten unsere Familiengeschichten aus, aßen und tranken viel und saßen bis nach Mitternacht bei spätsommerlicher Temperatur zusammen. Anderntags ging es in das Kreisstädtchen zum Bankomat. Mischa machte uns mit dem Polizeichef und dem Schulleiter bekannt, die dem ehemaligen Offizier mit Hochachtung begegneten. Wäre es nach Mischa gegangen, so hätten wir uns im Standesamtsraum zusammen mit einem auch ihm unbekannten Hochzeitspaar fotografieren lassen. Olga spendierte beim Rundgang ein Eis. Anderntags ging es zu einer weithin sichtbaren 200-jährigen und nun denkmalgeschützten Kirche mit einem Zwiebelturm. Mischa hatte dazu beigetragen, dass das zu Sowjetzeiten als Getreidespeicher genutzte Gebäude wieder als Gebetsstätte hergerichtet wurde. Nachdem wir uns im Dorf und in der Umgebung, insbesondere an einem Anglersee, umgesehen hatten, machte Mischa mit uns Stadtreisen. In Poltawa zeigte er uns mit Stolz das Gebäude, wo er als Offizier ausgebildet worden war. Olga war stets mit dabei und bereitete alles für ein Picknick vor. Unterwegs besuchten wir ein Volkskundemuseum und kauften Andenken. Im nahegelegenen Dzerschinsk besuchten wir den Markt für Viktualien und Haushaltswaren. Herta und Olga bestellten einen maßgefertigten Wollmantel. Während unseres Besuchs kamen wir mit vielen Ukrainern zusammen. Man saß ungezwungen unter dem Nussbaum, trank und aß. Äpfel, Weintrauben und Tomaten und Gurken in Fülle. Mehrfach schlachtete Olga für die Gäste ein Huhn. Meine Russischkenntnisse reichten gerade aus, um sich zu verständigen und auch über Politik zu reden. Unsere Gesprächspartner waren bemüht, sich durch einfache Sätze und langsames Sprechen verständlich zu machen. Viele beklagten, dass beim Umbruch so viel zerschlagen wurde, es viel Misswirtschaft gibt und nicht recht vorwärts geht. Die Ernteerträge von vor 1990 konnten bisher nicht wieder erreicht werden. Alle Menschen, mit denen wir bekannt wurden, betrieben tatkräftig eine kleine Wirtschaft und bemühten sich, dadurch ihre Familien durchzubringen. Naturalwirtschaft, gegenseitige Hilfe und Tauschgeschäfte waren angesagt. Wir besuchten im Nachbardorf Katja, die geschiedene Frau Mischas, und den gemeinsamen Sohn Sascha. Der nunmehr alkoholkranke junge Mann lebte auf einem ärmlichen Anwesen. Wir überreichten ein Geldgeschenk, und ich ließ Sascha ein Paar strapazierfähige Lederschuhe da, die ich als Ersatz mitgenommen hatte. Bei einem weiteren Besuch kamen wir mit Tochter Galja und ihrem Mann, einem „Schachtjor“ [Bergmann] aus dem Donbass, zusammen. Extra zu unserem Treff waren sie mit ihren beiden Söhnen aus der Ferne angereist. Nach dem Treffen bei Katja ging es zum Anwesen von Mischa. Erstmals begegneten sich nun Olga und Galja. Nach 12 erlebnisreichen Tagen saßen wir zum Abschied mit Verwandten und Freunden unter dem Nussbaum beim Frühstück zusammen. Herta berichtet in ihrem Tagebuch: „Eine Nachbarsfrau überreichte nach ukrainischem Brauch auf einem Tuch ein selbst gebackenes Brot mit Salz. Mussten gleich davon essen. Abschiedstoast von Tolja nach Aufforderung von Mischa. Erwiderung durch Sigi – nach seiner Meinung kümmerlich; ihm fehlten oft die Worte, da nachts zu viel getrunken und zu wenig geschlafen. Sinngemäß sagte Sigi: Außerordentlich viel gesehen, kamen viel und weit umher (namentlich Saporoshez, Poltawa, Dnepropetrowsk, Dneprodzerschinsk), konnten uns im Dorf umsehen und erfuhren so, wie man auf dem Lande lebt, erlebten überall herzliche Gastfreundschaft, werden die zwei Wochen in der Ukraine niemals vergessen, können unseren Freunden in Deutschland viel erzählen. Herzlichen Dank allen, besonders Michael und Olga. Auch der Walnussbaum nahm Abschied: Während des Essens fiel eine Nuss in mein Wodkaglas. Der Wodka spritzte raus und die Nuss blieb drin: ´Ich möchte mit auf Reisen gehen´. Verabschiedung mit Handschlag und Küsschen. Sigi umarmte Olga. Wir gingen zum Auto, wo das Gepäck für die Fahrt nach Kiew bereits verstaut war. Vor dem Gartentor spielte der Vater von Walja nochmals auf seinem Akkordeon und eine Nachbarin tanzte dazu. Mussten einsteigen, um dem Trubel ein Ende ein Ende zu bereiten. 11.30 Uhr Abfahrt, Ankunft in Kiew 18.30. Dann zwei Tage als weiterer Höhepunkt unserer Ukrainereise : Höhlenkloster und persönliche Führung durch einen Ikonenmaler und eine offizielle Führerin; Mahnmal `Mutter Heimat`; Stadtrundfahrt (Lenindenkmal auf dem Unabhängigkeitsplatz bereits beseitigt; dafür 1993 Säule mit Heiligensymbolisierung). Unterwegs mit Michael auf dem Chreščatyk: Michael erblickt den Kiewer Bürgermeister, den er aus dem Fernsehen kannte, hielt ihn an und sagte: `Hier sind deutsche Gäste`. Der Bürgermeister blieb stehen und sagte auf Deutsch `Guten Morgen`. Sein Begleiter überreichte uns eine Visitenkarte.“ Am 14. Oktober früh morgens starteten wir zur Rückfahrt im Schlafwagen nach Deutschland, gut versorgt mit einem Proviantbeutel von Lina, einer Verwandten von Mischa, bei der wir übernachtet hatten. Wir hatten ein Abteil für uns allein. Für die Nachtfahrt durch Polen erhielten wir einen Holzklotz, mit dem wir die Tür von innen zusätzlich sichern sollten. Ankunft in Lichtenberg anderntags gegen 8 Uhr. Unser Besuch in der Ukraine fand ein öffentliches Echo. Mischa schickte uns den Beitrag aus der Regionalzeitung. Wir blieben natürlich miteinander im Kontakt. Das wurde einfacher, als sich Mischa einen PC kaufte. Aus begreiflichen Gründen blieb die Politik ausgespart. Schließlich bat Mischa, unsere Kontakte auf die nächste Generation auszudehnen. Wir luden Sohn Wanja zum Besuch ein, erklärten uns zum Unterhalt und zur Absicherung einer ordnungsgemäßen Rückreise bereit. Das Konsulat in Kiew verweigert dennoch ein Visum, unser Protest blieb wirkungslos. Wir konnten aber helfen, als Mischa eine große Operation selbst bezahlen musste. Erneut wurden wir zu einem Besuch eingeladen.
So reisten wir im Dezember 2018 nochmals in die Ukraine. Das war einfacher als 2001. Nun bestand eine direkte Flugverbindung zwischen Wien und Dnepropetrowsk. Im Flieger waren vor allem gut gekleidete junge Leute, die nach der Arbeit im Ausland nach Hause reisten. Wiederum erlebten wir eine großartige Gastfreundschaft. Am Unabhängigkeitstag wurden wir zu einer Feier im Freien an einem kleinen See eingeladen und persönlich begrüßt. Der im Bürgerkrieg Gefallenen wurde gedacht. Die Festrede hielt die Leiterin eines Kindergartens. Es wurde ein fröhliches, ungezwungenes Beisammensein. Mädchen und Jungen aus dem Kindergarten sangen, tanzten und zeigten eingeübte Wettspiele. Danach tanzten locker viele Elternpaare auf dem Rasen. Wir besuchten mit Olga die stattliche Kirche und erlebten eine Kindstaufe mit. Verwandte und befreundete Familien luden zu üppigen Festmalen mit viel Selbstgebranntem ein. Diesmal kam es zu vielen politischen Gesprächen. Die Lebensverhältnisse hatten sich gegenüber 2001 nicht gebessert, und man schimpfte auf die allgegenwärtige Korruption. Der Bürgerkrieg in der Ostukraine erfüllte alle mit großer Sorge. Fast übereinstimmend wurde betont, eine Konfliktlösung werde nur mit friedlichen Mitteln erreicht. Man hoffte auf die Realisierung des Minsker Abkommens. Unsere Äußerung, man wünsche der Ukraine, dass sie nicht zum Spielball fremder Mächte werde, sondern Brücke zwischen der EU, besonders Deutschland, und Russland, wurde wohlwollend aufgenommen. Mit einem großen Paket Weintrauben verabschiedete man uns am Abreisetag. Im September 2019 besuchte uns Olga mit der 21-jährigen Enkelin Sascha. Sie reisten mit dem Bus aus Kiew an. Wir machten eine Hafenrundfahrt in Hamburg, besuchten den Berliner Fernsehturm und fuhren an die Ostsee. Beim ausgedehnten Stadtrundgang in Schwerin fotografierte Olga Gebäude des ehemaligen Lazaretts, den Lobedanzgang, wo die Familie Jahre zuvor gewohnt hatte, den Marienplatz mit dem Giebel des ehemaligen „Dom Offizierow“, das Schloss und den Burggarten. Die familiären Kontakte über so viele Jahre trugen dazu bei, dass wir mit Interesse die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen verfolgen und intensiv vor allem das Geschehen in der Ukraine beobachten.
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