Rede am 8. Mai 2020 auf einer Kundgebung in Ravensburg (Auszug)Volker Jansen, 2020 Volker Jansen, geboren im November 1945, wuchs in Düsseldorf auf, studierte an der FU Berlin und in Tübingen und unterrichtete von 1971 bis 2008 an der Gewerblichen Schule Ravensburg. Er ist Vorsitzender des Freundeskreises Brest e.V., der die Städtepartnerschaft zwischen dem Gemeindeverband Mittleres Schussental (Ravensburg, Weingarten, Baienfurt, Baindt und Berg) und Brest in Belarus fördert. Er engagiert sich außerdem für den Umwelt- und Naturschutz und lebt heute in Weingarten.
Ich durfte 1960 in Düsseldorf, also im Westen, zwischen Französisch und Russisch als dritter Fremdsprache wählen. Vielleicht hat auch das – leider nur vorübergehende – Tauwetter in der UdSSR meine Entscheidung für Russisch beeinflusst. Als Student der Germanistik und Slawistik in Berlin nahm ich ab 1965 an den Protesten gegen den Vietnam-Krieg teil, später an Demonstrationen gegen das Wettrüsten. Seit 1967 reiste ich wiederholt in die UdSSR. Mitte der 1980er Jahre fanden sich in Ravensburg auf Initiative der IPPNW Menschen zusammen, die einen Beitrag zum Abbau von Angst und Misstrauen und für Völkerverständigung leisten wollten. Sie gründeten einen „Arbeitskreis Ost-West-Partnerschaft“. Die sowjetische Botschaft in Bonn reagierte positiv auf die Anfrage, welche Städte an einer Partnerschaft mit Ravensburg interessiert seien. Im Sommer 1987 besuchte eine kleine Delegation die Städte Pskow und Brest. Diese Reise wurde vom frisch gewählten OB Hermann Vogler „eigenmächtig“ (ohne Beschluss des Gemeinderats) gefördert. Der CDU-Stadtrat Heinz Niederer und ich (damals für die Unabhängige Liste) nahmen als halboffizielle Vertreter des Gemeinderats teil. Dann entwickelte sich eine unglaubliche Dynamik: im Herbst 1988 besuchte L. Pirogowskaja, die stellvertretende Brester Bürgermeisterin, Ravensburg, im Mai 1989 folgte Boleslaw Wenzel, der Brester Oberbürgermeister. Im September 1989, nur wenige Wochen vor dem Fall der Mauer, wurde in Brest der Partnerschaftsvertrag – mit einer damals noch sowjetischen Stadt - unterzeichnet. Entgegen den Unkenrufen anfänglicher Skeptiker hat sich die mit Verbindung nach Brest zur lebendigsten aller Ravensburger Städtepartnerschaften entwickelt: Nirgendwohin reisen – in beide Richtungen – so regelmäßig zahlreiche Schüler*innen, Musiker*innen, Frauengruppen u.v.m. Es sind ungezählte stabile Freundschaften gewachsen, meine längste währt bereits 31 Jahre. Warum ist diese Verbrüderung – so heißt es auf Russisch – so etwas Besonderes? 1918 war in Brest ein für die ums Überleben kämpfende Sowjetmacht extrem verlustreicher Friedensvertrag zur Beendigung des Kriegs mit Deutschland abgeschlossen worden. Ende September 1939 eroberte die Wehrmacht Festung und Stadt und übergab sie gemäß dem geheimen Zusatzprotokoll des Hitler-Stalin-Pakts vom August 1939 an die Sowjetmacht. Knapp zwei Jahre später, am 22. Juni 1941, wurde Brest als erste Stadt von den deutschen Invasoren überrannt. Von Juli bis September 1941 – in nur 3 Monaten – kamen fast 9.000 Brester Zivilisten ums Leben. Ab Dezember 1941 wurden in der Stadt Juden aus Brest und dem Brester Gebiet in einem Ghetto zusammengepfercht. Wer dort nicht ermordet wurde oder umgekommen war, wurde im Dezember 1942 nach Bronnaja Gora (110 km östlich von Brest) transportiert und dort ermordet. 15.000 bis 20.000 Menschen wurden umgebracht! Etwa ein Drittel der 55.000 Bewohner waren Juden gewesen. - Am 28. Juli 1944 eroberte die Rote Armee die Stadt zurück, zweimal ging also die Front über sie hinweg. In der Stadt war ein Wehrmachtslazarett eingerichtet, später – bis 1953 - ein Kriegsgefangenenlager. Brest wurde dann auch zum Tor in die Freiheit für deutsche Soldaten, die aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft entlassen wurden. Heute gibt es bei Brest einen Friedhof, auf dem auch der deutschen Opfer gedacht wird. Für 1945 nennt die Statistik nur noch 22.900 Einwohner, nicht einmal halb so viele wie 1939. Brest hat also weit mehr Kriegsopfer pro Einwohner zu beklagen als Belarus und die Ukraine, wo der deutsche Terror und die Kriegsführung der verbrannten Erde besonders wüteten. Und dennoch: In dieser Stadt wurden wir 1987 mit offenen Armen empfangen. Bei meinen zahlreichen Reisen in die UdSSR, die Ukraine, nach Russland und Belarus wurde ich nie als Deutscher auf die Verbrechen meiner Landsleute angesprochen oder gar beschimpft. Die sowjetische Propaganda unterschied – zu unseren Gunsten – zwischen den „Hitler-Faschisten“ und „den Deutschen“. In der BRD wurde dagegen in den 1950er und 60er Jahren ein Zerrbild von der Sowjetunion und „den Russen“ gezeichnet und gepflegt. Und an diese alte Russen- und Russland-Feindlichkeit knüpft die heutige Propaganda an. Sie fabuliert von einer Bedrohung unserer Freiheit durch russische Expansionsgelüste. Sie dämonisiert Putin, der die Interessen seines Landes nach außen besonnen vertritt. (Mit Putins Innenpolitik müssen sich die Völker Russlands auseinandersetzen.) Anders der Freundeskreis Brest. Gemeinsam mit der Ravensburg Waldorfschule, der Edith-Stein-Schule, dem Klösterle, der Musikschule Ravensburg und noch mehr Ravensburgern fördern wir Kontakte, Bekanntschaften, Freundschaften. Wir hoffen, durch Volksdiplomatie die Zahl derer zu vermehren, die den alten und neuen Kriegstreibern entgegen treten. Reisen Sie nach Belarus, in die Ukraine, nach Russland! Sie werden dort immer und immer wieder eingeladen, auf die Freundschaft und die Bewahrung des Friedens zu trinken. Die dortige Gedenkkultur mit ihren Militär-Paraden, ordensgeschmückten Veteranen und bombastischen Gedenkstätten mag uns befremden, aber diese Menschen dort haben guten Grund, stolz zu sein. Ihre Eltern und Großeltern konnten die geplante Versklavung und Ausrottung durch Deutsche verhindern. Mit ihnen gemeinsam mahnen wir: Schluss mit dem Aufbau von Feindbildern, nie wieder Chauvinismus und Rassismus! Mit Willy Brandt sind wir überzeugt: Frieden ist nicht alles – aber ohne Frieden ist alles nichts!
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