Helmut Braunschweig, 2019 Helmut Braunschweig, Jahrgang 1933, Diplomchemiker, arbeitete viele Jahre im Chemiefaserkombinat Premnitz und lebt heute als Rentner in der Schorfheide. Startpunkt am 20. August 1956: Bahnhof Frankfurt/Oder, Bahnsteig 1, Zug der Russischen Staatsbahn, aufgestellt in Richtung VR Polen. Wartende Reisende: Fünf blutjunge Offiziere der eben gegründeten NVA der DDR und ein Oberstleutnant der Sowjetarmee, unser Begleiter. Ziel der Reise: Leningrad. Mit dem Einsteigen in den Zug begann für uns das „neue Leben“. Denn wer von uns jungen Burschen hatte zu jener Zeit schon einmal einen Reisewagen der russischen Staatsbahn betreten? Mit etwas Scheu beäugten wir die fremdartige Kultur russischer Reisewagen: Auf dem Gang gleich am Einstieg begrüßte uns mit etwas argwöhnischem Blick (wohl wegen der deutschen Uniformen), aber sehr freundlich, die Wagenbegleiterin mit einem beschrifteten Häubchen auf dem Kopf. Sie bot uns gleich Tee an, der frisch gekocht auf dem in einer Nische eingepassten Kohleofen bereitstand. Wir im Russischen noch ziemlich ungeübten Deutschen verstanden nicht gleich und schauten wohl etwas dumm aus „der Wäsche“, aber unser Begleiter sprang uns gleich zur Seite, bedeutete uns, das reservierte Abteil aufzusuchen und uns einzurichten. Alles andere würde sich schon finden. Wir taten es, fanden es gemütlich. Man hieß uns „Willkommen bei den Siegern der Geschichte“ und „Willkommen bei Mütterchen Heimat“. „Rodina“ wird, wie ein Eigenname, stets großgeschrieben. Schnell wurden der frische, starke, gut gezuckerte, heiße Tee und „Sakusski“ (Brot, Wurst, Käse) hereingereicht. So rollten wir Leningrad entgegen, nicht wissend, was uns an Neuem noch alles begegnen würde. Am 21.08.1956 beim Umsetzen des Kurswagens in Orscha. Erinnerungen kamen hoch, die etwas über 11 Jahre zurück lagen: Die letzten Tage des 2.Weltkrieges waren immer noch vom Kampflärm erschüttert. Mit mir, dem damals Zwölfjährigen, hockten acht Mitglieder der Familie Braunschweig vom 5. zum 6. Mai 1945 fröstelnd im Keller des kleinen Einfamilienhaus im 400-Seelen Dorf Göttlin an der Havel, gegenüber der Kleinstadt Rathenow, die seit 10 Tagen von der Roten Armee und den kläglichen Resten der Deutschen Wehrmacht umkämpft wurde. Granateinschläge waren zu hören und Steinstaub drang in den von einer Petroleumlampe schwach beleuchteten Keller. Die Angst saß uns in den Gliedern. Plötzlich eine unheimliche Stille! Zitternd sahen wir den nächsten Minuten entgegen. Auf der nach draußen führenden Kellertreppe vernahmen wir schwere Stiefeltritte. „Ruki werch!“ Ein MPI-Lauf schob sich durch die aufgestoßene Tür. „Deutsche Soldat?“
Großvater, der aus dem 1.Weltkrieg noch ein paar Brocken Russisch und Polnisch behalten hatte, stellte sich dem Soldaten entgegen: “Soldat niema, tolko Kinder, Frauen und ich.“ Zwei Soldaten der Roten Armee durchleuchteten mit einer Taschenlampe die engen Kellerräume. Einige Minuten der Angst ließen uns den Atem stocken. Beim Verlassen des Kellers sagten sie so etwas, wie „nix Angst, Krieg aus“. Auf der Straße hörte man jetzt das Rasseln von Panzerketten. Was nun? War der Krieg für uns wirklich zu Ende? Wir hockten immer noch wie erstarrt. Die russischen Soldaten zogen pausenlos mit ihren Panjewagen dem nicht mehr sichtbaren deutschen Heer Richtung Westen nach. Wir waren noch Tage uns selbst überlassen, bis uns am 9.Mai 1945 gegen 10 Uhr ein gewaltiger Lärm aus den Kehlen der russischen Soldaten aufhorchen ließ: „Urraaah! Gitler kapuut! Woina kapuut!“ Salven aus den Handfeuerwaffen schossen in den Himmel. Man umarmte und küsste sich, Tränen flossen. Es war der lang herbei gesehnte „TAG DES SIEGES“. Von harten Kampfspuren gezeichnete Soldaten lagen sich in den Armen - und umarmten auch uns. U n g l a u b l i c h . Jetzt nun, elf Jahre später, durfte ich bei den Siegern als Freund studieren, Land und Leute kennen lernen, eben jene, die uns während der Nazizeit als Untermenschen geschildert worden waren. Am 22. August 1956 in den frühen Morgenstunden erreichte der Kurswagen Leningrad, die Heldenstadt. Schöne sonnige Herbsttage begrüßten uns. Der Warschauer Bahnhof war nicht weit weg von dem für uns reservierten Quartier auf der Wassilewski-Insel, direkt am Ufer der Newa, gegenüber der Admiralität. Im Sonnenlicht glänzten Fassaden und Dächer aus der Zeit des alten Russlands. Unsere erste Aufgabe bestand im Einrichten der Zimmer, die für die künftigen Bewohner der 5. Fakultät (Ausländerfakultät) bereitgestellt worden waren und noch intensiv nach Farbe rochen. Uns standen pieksaubere Räume mit jeweils 5 bis 10 Betten zur Verfügung. Wir waren die ersten Ankömmlinge für das neue Lehrjahr, und so fiel uns die Arbeit des Einrichtens zu. Mit einer Abschlagzahlung für Essen und Trinken hatte uns Genosse Ogurzow, unser Betreuer, versorgt. Etwas Geschirr war in einer Gemeinschaftsküche zu finden. Schnell waren ein paar Schränke, Betten, Tische und Stühle aufgestellt. Bis zum Ende der Dienstzeit, 18 Uhr, waren die ersten Vorbereitungen getroffen, um übernachten zu können. Am nächsten Tag war um 6 Uhr Wecken und um 7.30 Uhr begann der Arbeitstag. Bis zur Ankunft der aus dem Urlaub zurückkehrenden älteren Lehrgänge war die Unterkunft „in Schuss.“ Der Fahnenappell am Morgen des 1. September 1956 auf dem Hofgelände im Akademiegebäude am Admiral-Makarow-Ufer, der ehemaligen Kadettenschule an der Kleinen Newa, zeigte uns erst, wie viele Hörer an der „Militär-Akademie für Rückwärtige Dienste und Transportwesen“ studierten. Wir begrüßten den Chef der Akademie, einen General, mit „Sdrawia zhelajem, towarischtsch General!“ Der Unterricht begann mit der Vorstellung der Lehrkräfte und der Bekanntgabe des Stundenplans für das 1. Semester, den Vorbereitungskurs. Das waren meine ersten Schritte im „neuen Leben“.
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