Petra Wunderlich, 2019 Petra Wunderlich, Jahrgang 1956, wuchs in einer Bergarbeitergemeinde im Erzgebirge auf. Seit 1980 arbeitet sie in Chemnitz als Lehrerin für Russisch, Französisch und Ethik.
„Dobryj djen!“ Diese zwei Worte hörte ich im September 1967 zum ersten Mal, und sie verzauberten mich sofort. Ich war Schülerin einer 5. Klasse, und wir hatten unsere erste Russisch-Unterrichtsstunde. Und diese zwei Worte, die ich an jenem Tag noch gar nicht verstand, veränderten mein Leben. Ich wusste von jenem Moment an, dass da „draußen“, das heißt außerhalb meines Heimatdorfes, Menschen leben, mit denen ich mich eines Tages in einer fremden Sprache verständigen kann! Und diese Neugier auf Sprachen, andere Länder und deren Kulturen habe ich bis heute nicht verloren. Deshalb besorgte ich mir von meiner Russischlehrerin die Adresse eines Mädchens meines Alters, das in der damaligen Sowjetunion lebte. Sie hieß Emma und wohnte damals in Kiew. Anfangs war es ganz schön beschwerlich, unsere Brieffreundschaft aufrecht zu erhalten. Emma schrieb die Briefe auf Russisch, was ich weder lesen noch übersetzen konnte, denn ich begann ja gerade erst, diese Sprache zu erlernen. Ich suchte mir Hilfe bei einer Schülerin der 11. Klasse, die mir die Briefe gut, gern und schnell übersetzte. Nun wollte ich unbedingt die fremden Buchstaben und Wörter lernen!!! Das fiel mir leicht und machte zudem noch Spaß! Erst konnte ich ein paar Wörter, später ein paar Sätze und nach ca. einem Jahr kleine Briefe auf Russisch schreiben. Emma freute sich darüber, denn sie konnte kein Deutsch. Wir berichteten uns über unseren Alltag, über unsere Familien, über die Schule, über unsere Freizeitbeschäftigungen und über verschiedene Feiertage. Ich freute mich über jeden Brief, jede herrlich bunte Postkarte und über die kleinen Päckchen, gefüllt mit russischem Mischka-Konfekt oder einer Trachtenpuppe oder einer heute noch im Regal stehenden Matrjoschka. Wir schrieben uns regelmäßig, und es entwickelte sich eine schöne Brieffreundschaft. Nach dem Abitur begann ich, in Berlin die Sprachen Russisch und Französisch auf Lehramt zu studieren. Im Rahmen des Studiums ergab sich die Möglichkeit, in Smolensk und Moskau Vorlesungen und Seminare zu besuchen. Das war die große Chance für Emma und für mich, uns in Moskau auf dem Roten Platz zu verabreden. Wir hatten uns vorher gegenseitig Fotos geschickt, so dass wir sicher waren, uns zu erkennen! Es war ein stürmischer, regnerischer Feiertag im Mai 1978. Auf dem Roten Platz versammelten sich Tausende von Menschen. Leider hatten wir nur eine Uhrzeit, aber keinen konkreten Treffpunkt ausgemacht! Ich suchte Emma in der riesigen Menschenmasse am Lenin-Mausoleum, am Spasski-Turm, am GUM, an der Basilius-Kathedrale... Wir fanden uns nicht. Und es gab keine Möglichkeit, sie anzurufen! Ich war unheimlich traurig. Einen Tag später schrieb ich ihr einen Brief, um zu erfahren, wo sie gewartet hatte, bzw. ob sie überhaupt da gewesen war. Ich bekam eine kurze Antwort von einer sehr enttäuschten Emma. Sie war extra von Kiew nach Moskau geflogen, um mich kennenzulernen. Auch sie hatte mich stundenlang auf dem Roten Platz gesucht. Umsonst! Damit beendete sie unsere 12-jährige Brieffreundschaft. Ich versuchte noch mehrmals, unseren Briefwechsel wiederzubeleben. Aber leider habe ich bis heute kein Lebenszeichen mehr von ihr bekommen. Eine gute Freundin, die mich zum Aufschreiben dieser kleinen Geschichte animierte, gab mir den Rat, noch einmal, nach über 40 Jahren, an die alte Adresse von Emma zu schreiben. Vielleicht wohnen ja sogar ihre Eltern noch dort? Manchmal geschehen noch Wunder!
1 Kommentar
28/2/2020 14:33:54
Liebe Petra,realisieren Sie ihre Absicht! Ich habe nach 40 Jahren wie durch ein Wunde reinen Freund in Belarus in der Stadt Lida wieder gefunden.Uns verbindet jetzt eine innige Freundschaft, die sich auf seinen Sohn und weitere Angehörige erweitert hat. Wir begegnen uns jährlich im Landkreis Lida wie alte Nachbarn. Freundschaft überwindet jede Grenze!. Schreibt Helmut
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