Hartmut WinterfeldtHartmut Winterfeldt, geboren 1946, lebt in Schwerin. Er war Offizier der NVA, ab 1991 Verbindungsoffizier der Bundeswehr zu Verbänden der WGT, arbeitete dann als Fachberater für Schornsteinbau und zuletzt bis 2007 als „Umbetter“ für den Volksbund Deutsche Kriegsgräberfürsorge.
Ein Umbetter des „Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge e.V“ ist angehalten, Grablagen deutscher Soldaten aus dem Zweiten Weltkrieg zu finden und die verbliebenen sterblichen Überreste auf einen Soldatenfriedhof umzubetten. Versöhnung über den Gräbern ist ein Kerngedanke, mit dessen Hilfe er den Kontakt zu Zeitzeugen aufbaut, um Informationen zu gewinnen. Die erhaltenen Daten über deutsche Kriegsgräber werden dienstlich dokumentiert. Bei den Begegnungen bleiben Erzählungen über die Kriegszeit nicht aus. Einiges habe ich 2008 in meinem Buch „Was bleibt? Kriegsgräber im Osten“ dokumentiert. Hier einige Episoden daraus: Katanajew erzählt, dass Herr Glas, ein früherer Landrat in der Gebietsverwaltung, jemand kennt, der pensionierter Bürgermeister ist, viel weiß, selbst forscht und als Kind etliches selbst erlebt und gesehen hat. Der Mann wohnt in Bojary (Gemeinde Systschkowo), das liegt von Minsk kommend kurz vor dem Kreisverkehr, der die Zufahrt nach Bobruisk bzw. auf die endlose Umgehungsstraße der Stadt regelt. Bürgermeister war er in Sytschkowo, da ist die Gemeindeverwaltung. Hier steht auch eines der größten Ehrenmale dieser Gegend. Der Mann heißt Kasimirowitsch, Nikolaj Jakowlewitsch. Wir finden ihn auf seinem Grundstück, er ist bei seinen Bienen. Wir machen uns bekannt, und es werden bei ihm mehrere Besuche. Seine Aufmerksamkeit für die Geschichte des Ortes und seiner Familie wurde auf eine etwas eigenartige Art und Weise geweckt: „Ich war in einer Buchhandlung, weil ich nach einem Termin beim Kreis noch etwas Zeit hatte. Beim Stöbern in den Regalen fiel mir ein Buch über das KZ Mauthausen in die Hand. Ich blätterte darin und fand am Ende eine Liste mit belorussischen Bürgern, die dort umgekommen waren. In der Liste standen die Namen meines Vaters und eines Onkels. Die Deutschen hatten sie gleich am ersten Tag der Besetzung unseres Dorfes mitgenommen, und wir hatten nie wieder etwas von ihnen gehört.“ In der Folge suchte er Kontakt mit den Autoren des Buches. Er hilft aktiv bei der Schicksalsklärung auch für andere. Er war noch ein Kind während der deutschen Besatzung. Es gab Einquartierungen, und im Dorf lag eine kleine deutsche Einheit. „Wir haben auf den Frühling gewartet, damit wir endlich Sauerampfer suchen und essen konnten.“ Der Hunger war unvorstellbar. Im Frieden hatten die Leute auf dem Land wenigstens genug Kartoffeln. Aber es gab auch das: Irgendwann stand im Dorf eine deutsche Feldküche. Ich ging vorsichtig näher heran bis der Koch mich heranwinkte und sagte: ´Hol eine Schüssel.´ Ich kam mit einem Essnapf zurück. ´Eine Schüssel sollst du holen, habe ich gesagt!´, war die Reaktion. Ich ging noch einmal, und er füllte mir so viel ein, dass es für die ganze Familie reichte.“ Aber es gab auch ganz anderes. Kasimirowitsch hatte einen älteren Bruder, der 1942 16 Jahre alt wurde. Damit war er „reif“ für den Arbeitseinsatz in Deutschland. Als er der Aufforderung, sich bei der Kommandantur zu melden, nicht nachkam, kamen Bewaffnete, um ihn mitzunehmen. Sie mussten einen Tipp bekommen haben, denn der Junge war tagelang nicht zu Hause gewesen, er hatte sich in den Wäldern, vielleicht bei den Partisanen, versteckt. Die Männer durchsuchten das Haus, er lag unter einem Bett. Das Bett wurde mit Bajonetten durchstochen. Als die Männer weg waren, sah die Mutter nach. Er war wie durch ein Wunder unverletzt geblieben. Ein paar Wochen später ergriffen sie ihn doch. Er wurde nach Deutschland deportiert. Im Sommer ´45 kam er gesund zurück. Er war „beim Bauern“, hatte gearbeitet. Bei vielen Bauern saßen die „Ostarbeiter“ mit der Familie am Tisch, der Geburtstag wurde gefeiert. Die sowjetische Administration glaubte ihm nicht, dass er nicht freiwillig in Deutschland war. Für alle Fälle ab nach Workuta! Als er nach Stalins Tod 1953 entlassen wurde, war seine Gesundheit ruiniert, er starb noch in den 1950er Jahren. Dreimal sollte die Bevölkerung des Dorfes im Krieg erschossen werden. Dreimal hatte der eingesetzte Starost mit Unterstützung einer deutsch sprechenden Frau verhandelt, bis die Deutschen von ihrem Vorhaben Abstand nahmen. Anlass der geplanten Vernichtung waren Handlungen der Partisanen, die, in den Wäldern westlich Bobruisk versteckt, die Gegend unsicher machten, vor allem die „Rollbahn“ (so nannte die Wehrmacht die befestigten, ganzjährig befahrbaren Straßen) nach Bobruisk sowie die wichtige Eisenbahnverbindung nach Mogiljow. Es kam der Sommer 1944. Die Leute hörten den Schlachtenlärm aus Bobruisk. Die deutsche Einheit aus dem Dorf war längst verschwunden. Die Kinder sollten die Keller nicht verlassen. Der kleine Nikolaj war neugierig. Er sah zwei Katjuschas, wie sie gerichtet wurden. Ein Offizier beobachtete das Gelände und wartete ab. Er wartete, bis zwei Kilometer entfernt eine fliehende deutsche Einheit den schützenden Wald verließ. Dann erst gab der Feuerbefehl. Viele Tote. Die Toten sah Nikolaj nicht, die Erwachsenen ließen ihn nicht dorthin. Aber er sah die Verwundeten durch das Dorf in die Gefangenschaft ziehen. Sie rasteten im Dorf, baten um Hilfe, und die Frauen verbanden notdürftig, gaben Wasser und vielleicht ein bisschen zu essen. Kasimirowitsch fährt mit uns an den Ort des Geschehens. Das Gelände hat sich verändert, eine Brücke mit Wehr führt über den kleinen Fluss Woltschanka, der hinter dem Wald fünf Kilometer nördlich in die Beresina mündet. Wo begraben wurde, weiß er nicht, aber im Wald sieht man noch Reste von Stellungen aus dem Jahre 1918, als das deutsche Heer, die Wirren der russischen Revolution ausnutzend, die 300 Kilometer von Baranowitschi bis hierher vorgerückt war. Wahrscheinlich hatte man 1944 die Toten in die alten Unterstände und Schützengräben gebracht. Wir werden in diesem Waldstück großflächig sondieren müssen.
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