Siegfried von Bodecker, 2017Siegfried von Bodecker, Jahrgang 1932, war selbstständiger Drogist und lebt heute als Rentner in Schwerin. Der mündliche Bericht wurde von Hartmut Winterfeldt aufgezeichnet.
Es war am 2. Mai 1945 gegen Mittag, als die Amerikaner in Ludwigslust einzogen. Wir wohnten in der John-Brinckmann-Straße 10, jetzt ist es die Nr. 32. Die Amerikaner waren im Nebenhaus und wir wuschen für sie Wäsche. Mein Vater war im Ersten Weltkrieg Major, und als die Amerikaner in seinem Arbeitszimmer die Degen und Säbel sahen, wurden diese als „Kriegswaffen“ requiriert. Sonst hatten wir mit den Amerikanern nicht viel zu tun. Meine Mutter war für das Rote Kreuz bei der Bahnhofsmission tätig. Am 3. Mai kamen die ersten aus dem Konzentrationslager Wöbbelin befreiten Häftlinge und baten um Brot. Ich erinnere mich an einen Franzosen und einen Holländer. Wir gaben ihnen Brot und meine Mutter, die Französisch und Englisch sprach, ermahnte sie, vorsichtig und nicht zu hastig zu essen. Nach einigen Tagen erlebten wir die Folgen, denn meine Mutter war mit dabei, als verstorbene Häftlinge zum Teil aus dem Straßengraben geborgen und zur Bestattung zum Schlossgarten gebracht wurden. Die Amerikaner blieben nicht lange, die sie ablösenden Engländer haben wir kaum bemerkt, und am 1. Juli kamen die Russen mit ihren Panjewagen. Unsere Familie mit meinem Vater als pensioniertem Weltkriegsmajor war ja eigentlich konservativ. Wir waren 1936 von Bad Schandau nach Ludwigslust in das neu erbaute Haus gezogen. Als 1941 der Krieg gegen Russland begann, kam mein Vater in die Veranda und sagte: „Das ist der Untergang Deutschlands.“ Er grüßte nie mit „Heil Hitler“, auch nicht wenn Klassenkameraden mich zuhause besuchten. Mütterlicherseits hatte ich Verwandte, die mit der Bewegung um den 20. Juli in Verbindung standen. Bei Kriegsende wohnten auch Flüchtlinge in unserem Haus, darunter Leute aus dem Baltikum, die Russisch sprachen. Es erschien eine russische Majorin und gab bekannt, dass die ganze Straße für Einquartierungen geräumt werden sollte. Bis zum Abend hatten wir das Haus zu räumen und wir kamen in der Stadt getrennt an verschiedenen Stellen unter. Dann hatten wir eine kleine Wohnung. In der Folgezeit konnten wir das Haus gelegentlich aufsuchen. Die Russen hatten dort eine Schusterwerkstatt und eine Schneiderei eingerichtet. So ging das bis Ende 1946, da konnten wir in das Haus wieder einziehen. Wir wohnten unten. Oben wohnten Mischa, der Wirtschaftsoffizier von der Kommandantur im Schloss Ludwigslust, und Rischka, Koch im Hotel „Fürst Blücher“, mit seiner deutschen Freundin. Es ging eigentlich ganz gut. Mischa konnte etwas Deutsch, wir hatten inzwischen ein wenig Russisch gelernt. Mein Vater war ja altgedienter Offizier, er hatte uns streng erzogen. Ich weiß nicht, wie meine Eltern das geschafft haben, jedenfalls hatten die „Untermieter“ keinen Haustürschlüssel. Kamen sie spät, öffneten meine Mutter oder ich die Haustür. Manchmal hörte man dann „Kamerad, du machen“ und die Gäste zogen aus den Taschen Speck und Eier, die noch am späten Abend gebraten wurden. Da habe ich mit meinen 14 Jahren „sto Gramm“ trinken gelernt. Waren im Haus keine Kartoffeln oder Kohl vorrätig, nahm Mischa mich mit ins Schloss und ich konnte meinen Rucksack füllen. Einmal kamen russische Bekannte von Mischa zu Besuch, sie umarmten sich heftig, aber plötzlich ertönte oben im Haus eine MPI-Salve, versehentlich ausgelöst. Zum Glück gab es keine Verletzten. Mischa entschuldigte sich bei meinem Vater. Rischka war weniger umgänglich. Das war die Ludwigsluster Zeit. Dann ging ich nach Parchim zur Ausbildung als Drogist. Ich erinnere mich, wie die russischen Frauen nach „bjelyj“ (weißer Schminke) verlangten und wie die Männer mir erklärten, dass man Birkenhaarwasser trinken kann. Ein interessanter Artikel für sie war auch die „Frauendusche“, eine Art Klistierball, mit dem man Salzlösung zur Abtreibung einführen konnte. Dann kam ich nach Schwerin und begann in der Bergdrogerie bei Martin Gierath. Die Russen hatten damals noch eine Abteilung im späteren VEB Klement-Gottwald-Werke. Und sie kamen auch von anderen Dienststellen wegen der Akkusäure. Die Säure wurde in großen Ballons bereitgestellt. Gierath nahm aus Kostengründen statt destilliertem Wasser Leitungswasser. Er meinte, für die Russen genüge „Aqua Pumpica“. Es gab nie Beschwerden. Die Russen brachten ihre Freude zum Ausdruck, nahmen uns mit vor den Laden und machten Fotos, von denen wir leider keine Abzüge erhielten. Sie kaufte auch Farben und „Duchi“, also Parfüm für die Frauen. Einige Jahre später kam ich wieder nach Schwerin und leitete dort die Parfümerie am Leninplatz an der Ecke zur Schlossstraße. Gegenüber war das „Haus der Offiziere“. Die Offiziere und ihre Frauen kauften wieder Parfüm. Begehrt waren die in dieser Zeit in der DDR hergestellten künstlichen Haare, mit denen sich besonders die russischen Frauen hohe Frisuren aufstecken konnten. Der größte Clou aber waren Haarnetze. Eines Tages kamen zwei Offiziere in den Laden und sagten: „Kamerad, du besorgen setki“. Sie meinten Haarnetze, die in der DDR insbesondere für Frauen vorgeschrieben waren, die beruflich mit Lebensmitteln umgingen. Ich zeigte auf ein Kästchen mit ein paar Stück. „Nein“, sagten die beiden, „nicht zwei sondern zwei oder drei hundert.“ Es gab ja einen Drogeriegroßhandel in der Münzstraße und ich versprach: „Sawtra“ (morgen). Am nächsten Tag lag alles bereit, und nach zwei oder drei Tagen kamen die beiden wieder und waren begeistert. Nun müssen wir essen gehen, meinten sie und forderten mich auf mitzukommen. Es war erst etwa vier Uhr und ich verabredete mich mit ihnen auf nach sechs Uhr. Das Haus der Offiziere war damals nicht wirklich öffentlich. Vorn befand sich ein „Magasin“ (ein Laden), dahinter ein Tanzsaal, an dessen Seiten etwas erhöht Tische standen. Da saßen sie, begrüßten und bewirteten mich. Als die Rede auf die Familie kam und sie erfuhren, dass ich Kinder hatte, gingen sie mit mir nach vorn ins Magasin, und ich kaufte Bananen und Südfrüchte. Das ging übrigens auch in anderen sogenannten „Russenmagazinen“, zum Beispiel in der Lischstraße. Die beiden kamen dann noch öfter. Einmal fuhr ich im Zug nach Ludwigslust. Im Abteil saßen außer mir ein russischer Offizier und ein Mann in einem damals sehr gefragten modischen Sommermantel aus Nylon. Den gab es nur im Westen, aber meine Mutter durfte ja fahren und mein Bruder konnte Pakete schicken. Der Offizier erhielt meine Adresse in der Brinckmannstraße, die Straße kannte er, denn in einigen Häusern wohnten damals noch sowjetische Familien. Ich erzählte das meiner Mutter, und nach einigen Wochen hatten wir zwei Mäntel. Der Offizier suchte mich im Laden auf, wir verabredeten uns in Ludwigslust, er war pünktlich da und erhielt die Mäntel. Ins Haus kam er nicht. Das „Geschäft“ wurde in der Glasveranda abgewickelt. Ähnliche Begegnungen hatte ich in den 1970er und 1980er Jahren als Drogist in der Feldstadt. Irgendwann um 1990 kam zu mir ein Offizier, der Arbeit für seine Frau suchte. Ich stellte sie in der Drogerie ein, und wir kamen gut miteinander aus. Anfang der 1960er Jahre war ich mit dem Reisebüro in Leningrad, und durch meine Tätigkeit als Philatelist im Kulturbund der DDR hatte ich einige Jahre Kontakte nach Estland. Ich weiß nicht einmal genau, ob der Partner Russe oder Este war. Irgendwann brachen die Kontakte ab, wie das damals oft der Fall war. Ich erinnere mich schwach an einen Briefverkehr meiner Eltern mit einer Familie, die in den späten 1940er Jahren als „Spezialisten“ in die Sowjetunion gebracht worden war. Den Leuten ging es gut, aber den konkreten Ort und die konkrete Tätigkeit erfuhren wir nicht. Ein Fazit: Wir als Familie haben durch die sowjetische Besatzung vielleicht diese oder jene Unannehmlichkeit gehabt, aber schlechte Erinnerungen an die Russen habe ich nicht.
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