Bernd Meyer, 2019 Bernd Meyer, Jahrgang 1939, ist Architekt im Ruhestand und lebt in Schwerin.
Es war Ende der 1950er Jahre, als sechs Sport-Segelboote, vom Typ "Pirat" zu einem kleinen Flottenverband zusammengestellt wurden, um gemeinsam nach Berlin geschleppt zu werden. Die Besatzungen dieser seinerzeit beliebten Bootsklasse bestanden aus je zwei jugendlichen Seglern, alle stammten vom Sportverein "Medizin" und von dessen Bootshafen Goyatz am Schwielochsee. Ihr Ziel war der Müggelsee (Berlin), auf dem mittels einer Reihe von Regatten, gleichsam in Vorrunden für die DDR-Meisterschaften, die erfolgreichsten Segler ermittelt werden sollten. An der Verbandsspitze blubberte und zerrte mühsam ein kleines altes Motorboot; die sechs "Piraten" hingen an einer langen Schlepptrosse. Ich freute mich, dass ich zum Cottbusser Team gehörte, und fühlte mich, wie auch alle anderen der Gruppe, sauwohl. Die Sonne schien, es war warm, eine leichte Brise wehte die Motor- Abgase zur Seite, wir hatten ein paar Tage vor uns, frei von Pflichten, Bevormundung und Kontrolle. In einem der Boote saßen sogar zwei lustige Mädchen, somit waren alle Voraussetzungen für beste Laune gegeben. Wenn heute Jugendliche als Gruppe unbeschwert, fröhlich und zufrieden beieinander sind, äußert sich das bekanntlich oft in Form übermütiger Selbstüberschätzung oder alberner Sprüche, bei uns war das damals genau dasselbe. Nach stundenlanger gemütlicher Fahrt hatten wir sowohl den nördlichen und weitaus größeren Teil des Schwielochsees als auch den anschließend kleineren Glower- sowie den Leißnitzsee überquert und waren gerade in die hier nicht sehr breite Spree eingelaufen. Am westlichen Ufer des Flusses hockte ein einsamer russischer Soldat und wusch seine khakifarbene Uniformjacke. Aus dem Bootschlepp heraus rief einer von uns: „Hej, Aljoscha, du solltest mal wieder dein Hemd teeren, da kommt schon das Weiße durch!" Möglicherweise verstand der Rotarmist die Worte nicht, aber das verletzende Gelächter, der Gruppe, das der großmäuligen Aufforderung folgte, musste ihm deutlich gemacht haben, dass hier soeben k e i n e Freunde vorbei schipperten. Nach fünf oder sechs Tagen waren die Regatten auf dem Müggelsee beendet, und unser kleiner Schleppzug befand sich auf der Heimfahrt, diesmal nach Süden und stromauf. Die Stimmung war wegen der enttäuschenden Platzierungen, wegen des bedeckten und kühlen Wetters, wegen des Schlafdefizits und auch sonst nicht anders als knurrig und missmutig zu nennen. Die miese Stimmung sank ins Bodenlose, als am späten Nachmittag der störrische und höchst unzuverlässige Motor unseres "Schleppers" nach einigen Fehlzündungen endgültig verröchelte. Es blieb uns nichts anders übrig, als - verzweifelt fluchend - die Stechpaddel in die Hände zu nehmen. Handys oder Telefonzellen gab es damals nicht, an eine freundliche Reparatur-Werkstatt war überhaupt nicht zu denken. Die Havarie ereignete sich auf der Spree in Höhe von Ranzig, just an der Stelle, wo vor einigen Tagen der Russe am Ufer seine Uniformjacke gewaschen hatte. Wir fanden bald heraus, dass unweit, im lichten Kiefernwald zwischen Fluss und Ranziger See ein Sommerlager der Roten Armee aufgeschlagen war. Obwohl ein jeder von uns etwa acht Jahre Russischunterricht "genossen" hatte, erwies sich keiner in der Lage, den "Freunden" in deren Sprache unsere Lage zu schildern, und um Hilfe zu bitten. Zur Erklärung des Sprachunvermögens muss man wissen, dass die ostdeutsche Jugend in den fünfziger Jahren diese Sprache nicht liebte, der pädagogische Lernzwang kam hinzu. Als Schüler erwartete man einfach keine praktische Verwendbarkeit für "Russisch" außerhalb der Schule. Eine Fremdsprache, die man unter solchen Umständen lernen soll, hat keine Chance, man vergisst die wenigen Kenntnisse bald wieder! Die in der DDR stationierten sowjetischen Streitkräfte waren hauptsächlich im Straßenverkehr unübersehbar und stets präsent, ansonsten in den Kasernen abgeschottet. Ständiges Geheimnis blieb in der DDR, wie viele fremde Soldaten sich denn insgesamt im Land befanden. Unerklärbar war auch, dass zivile menschliche Kontakte zwischen Deutschen und Russen überaus selten, schlicht und einfach gar nicht üblich waren. Es herrschte im Allgemeinen (von wenigen Ausnahmen abgesehen) eine merkwürdige gegenseitige Scheu voreinander. Man trat, bildlich gesehen, statt einander friedlich oder feindlich zu begegnen, vorsichtshalber lieber wortlos zur Seite. Das zur Erklärung der doppelt verzwickten Lage, in der wir uns am Ufer der Spree befanden -angesichts eines von Soldaten bevölkerten Militärlagers mit Soldatenchor aus Lautsprechern, Motoren, Staub und Qualm. Erhofft, aber eigentlich unerwartet, muss unser hilfesuchendes Gestammel irgendwelche offenen sowjetische Ohren gefunden und ausreichende militärische Befehle ausgelöst haben, jedenfalls dröhnte nach etwa zwei Stunden vom Leißnitzsee her ein starkes Bugsierboot der Roten Armee mit beeindruckender Bugwelle in die Spree. Es manövrierte sich vor unseren verknäuelten Schleppzug; Leinen wurden geworfen und Slipsteks geknotet. Plötzlich ging`s mit einem überraschenden Ruck stromauf- und vorwärts! Alle waren erleichtert und begrüßten lachend die Geschwindigkeit, mit der wir nun über Fluss und Seenkette spritzten, allseits beste Laune hatte sich längst wieder eingestellt. Wir erreichten den Heimathafen Goyatz allerdings erst am späten Abend und es war beinahe schon finster. Als der Schleppzug sich endlich in seine Bestandteile aufgelöst hatte und das russische Schnellboot hätte zurückfahren können, war es "zappenduster". Nun erwiesen sich die beiden Soldaten an Bord als außerstande, des Nachts den Seeweg zurück zu ihrem ca. 14km entfernten Sommerlager zu finden. Wir erkannten völlig unbekümmert darin zunächst kein Problem: "Dann übernachten beide Soldaten einfach hier bei uns und fahren erst mit Tageslicht zurück"! Dieses "Wegbleiben über Nacht" bedeutete für die Rotarmisten aber offenbar so etwas wie "Desertion", zumindest "Entfernung von der Truppe". Sie lehnten diese Möglichkeit daher vehement gestikulierend ab, unsere so praktische und einfache Lösung des Problems kam also überhaupt nicht in Frage. Mein Segel- und Schulfreund N. und ich (beide kannten wir natürlich das Segelrevier Schwielochsee, wenn auch nicht des Nachts) erklärten uns schließlich bereit, mit ihnen zurück zum Manöverlager bei Ranzig zu fahren. Die Nacht war ohne Mondschein, also pechschwarz. An Bord befand sich jedoch ein leistungsfähiger Suchscheinwerfer, mit diesem leuchteten wir stets voraus, in die Richtung, in die zu fahren war. Trotzdem liefen wir unterwegs auf eine Sandbank, das Schiff hob sich und krängte deutlich, die Soldaten verloren kein Wort, schalteten in stoischer Ruhe die Schraube auf "Rückwärtsgang", und wühlten uns nach wenigen Minuten mit der Maschine frei. Obwohl wir erst spät nachts von bewaffneten Posten in das nunmehr totenstille Militärlager eingelassen wurden, begleitete man uns junge Zivilisten unverzüglich in ein freies Achtmannzelt mit Mittelmast, darin befanden sich zwei Eisenbetten mit filzrauhen Militärdecken. Man bedeutete uns, hier zu schlafen. Am nächsten Morgen weckten scharrend- kratzende Geräusche, die wir zunächst nicht deuten konnten. Vor das Zelt tretend, wunderten wir uns zu Recht über eine Abteilung Rotarmisten, die emsig den Wald fegte! Zwei Soldaten näherten sich mit je einer großen dampfenden Teekanne und forderten uns zu morgendlichem Waschen auf, dazu hatten sie warmes Wasser geholt. Sogar Seife und Handtücher lagen schon bereit. Zum Frühstück saßen wir später gemeinsam mit einem Trupp Soldaten auf dem Waldboden und löffelten aus blechernen Kochgeschirren "Kascha". Das war Buchweizengrütze, nicht gesalzen oder gewürzt, aus einer qualmenden "Gulaschkanone" ausgekellt. Der Brei sah sehr gesund aus, schmeckte dennoch überhaupt nicht, unsere Mägen hoben sich leicht, obwohl wir beide hungrig waren und ehrenhalber sogar die Offiziers-Portion (verfeinert mit gewürfelten Gurken und Tomaten) empfangen hatten. Um die freundlich bemühten Gastgeber nicht zu verletzen (sie aßen selbstverständlich dasselbe!), würgten mein Kumpel und ich tapfer den dicken Pamps hinunter, verzichteten jedoch energisch auf Nachschlag! Zum Glück erschienen nun, breit grinsend, beide Soldaten, die wir bereits vom Vortag kannten, und führten uns wieder auf das Schnellboot. Auf dieser nunmehr dritten Fahrt ließen sie uns auf dringlichen Wunsch gutmütig ans Steuerruder; aber wenn wir mit speed oder nahe an irgendwelchen Sportbooten vorbei zu pfeifen im Begriff waren, griffen sie regelmäßig ein und entzogen uns wortlos das Gas. Wiederum im Segelhafen von Goyatz angekommen, wollten die Russen weder Bezahlung noch Vergütung anderer Art für ihre Hilfe annehmen, kamen aber bereitwillig mit uns in die dörfliche Konsumgaststätte, beide sichtbar an Alkohol interessiert. Sie vertrugen ihn aber leider nicht, wie erwartet und den Russen allgemein nachgesagt, sondern erfreuten das vormittägliche Kneipen-Publikum bald durch wunderliche Gleichgewichtsstörungen. Von den Biertischen her erklangen ein derber Scherz und höhnisches Gelächter. Das Ganze hätte (nach etwaiger Denunziation) auch militärische Straf-Konsequenzen für beide Soldaten haben können. Deshalb bemühten wir uns eifrig, sie aus dem Konsum heil wieder an Bord zu bekommen. Als sie mit ihrem Schnellboot schließlich ablegten und zum vierten Mal Fahrt aufnahmen, diesmal allein, bei Tageslicht, nicht ganz nüchtern und in Richtung Sommerlager der Roten Armee, blieben mein Kumpel und ich auf dem langen Bootssteg zurück und wünschten ihnen herzlich glückliche Heimfahrt, nicht anders, als hätten wir Freunde verabschiedet.
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