Hans- Jürgen Audehm, 1994/95 Dr. Hans-Jürgen Audehm, Jahrgang 1940, Lehrer für Russisch und Mathematik, lebt in Schwerin. Er war als Lehrer und in mehreren gesellschaftlichen Funktionen im Bezirk tätig.
Im September 1994 begann er eine Tätigkeit als Bundesprogrammlehrer für „Deutsch als Fremdsprache“ an der Staatlichen Universität in Barnaul, der Hauptstadt des Altaigebiets. Aus dieser Zeit stammen seine Tagebuchaufzeichnungen, darin Skizzen zu einer bemerkenswerten Bekanntschaft. Die Erzählung wurde im Rahmen des von Putin ausgeschriebenen internationalen Wettbewerbs „Russisch kreativ“ 2007 mit einem Preis ausgezeichnet und veröffentlicht. 4.9.1994 Mascha, eine 75-jährige kleine wuselige Frau, ist heute Diensthabende im Wohnheim, das für ein Jahr mein zu Hause sein wird. Der Dutt thront wie ein Törtchen auf ihrem Kopf. Ihre blauen, blitzenden Augen signalisieren Güte und Herz. Es dauert nicht lange, der Kontaktfunken springt über, und sie schüttet mir ihr Herz aus. Über 50 Jahre hat sie treu und zuverlässig gearbeitet, erzählt sie mir. 30 Jahre davon beim KGB, als Leutnant der Staatssicherheit. 1948 ist sie in die Partei eingetreten – und heute muss sie nun ein Leben in Elend und Not führen. Sie sagt Jura und Söhnchen zu mir. So werde ich „russifiziert“. „Mir bricht das Herz, wenn ich an meinen Sohn denke“, erzählt sie. “Er war Oberst der Sowjetarmee und hat fünf Jahre in Deutschland gedient. Insgesamt hat er dreißig Jahre seines Lebens der Armee geopfert, der glorreichen. Nun ist er schon drei Jahre aus der Armee entlassen. Bis heute hat er keine Wohnung bekommen. Nun wohnt er mit seiner Frau und zwei Söhnen, 19 und 22 Jahre, bei mir in einer Anderthalb-Zimmer-Wohnung. Meine Zimmer sind ein Feldlager. Ich hoffe jeden Tag auf ein Wunder, doch die Aussicht auf Veränderung ist gleich Null. So kann ich nur noch auf den Tod hoffen und warten.“ Sie weint, sie entschuldigt sich. „Ach, Jura, mein Söhnchen, ich will dich nicht belasten. Aber was für ein Unglück ist mit uns geschehen….“ 12.9.1994 Die Nacht wird zum Alptraum. Nachts gegen 0.30 Uhr klopft es an mein Zimmer. Vor der Tür steht ein hageres bärtiges Männchen, neben ihm Mascha. Sie wieselt um mich herum und bittet mit tränenerstickter Stimme, ich möge doch dem lieben Menschen Unterkunft gewähren. „Es ist doch schon so spät, und ich weiß nicht wohin mit ihm. Jura, ich bitte Sie. Er ist Mitarbeiter der Universität, kehrt von Ausgrabungen im Altaigebirge zurück und findet sein Zimmer von Ihnen besetzt. Er ist eine herzensgute Seele, wo soll er schlafen, wo soll er hin?“, sagt sie zaghaft lächelnd. Ich bin zwar wenig erfreut, aber was soll ich anderes machen, als mich der Wohltätigkeit Maschas anzuschließen und ihm mein zweites Bett im engen Zimmer anzubieten. Es stellt sich heraus, dass er nicht über die Veränderungen im Wohnheim informiert worden ist und nun sein zu Hause besetzt findet. Eine typisch russische Situation, die man nur in einem anschließenden Nachtgespräch bei Wodka, Salzfisch, sauren Gurken und Speck klären kann. - Mascha zieht mit freudigem Gesicht von dannen. 29.9.1995 Heute zeigt mir Mascha unter Tränen ihre Parteidokumente. Man hat ihr angeraten, sie in den Müll zu schmeißen. „50 Jahre bin ich Mitglied der ruhmreichen Partei gewesen – und nun soll ich mein Leben wegschmeißen“, sagt sie. „Das bringe ich nicht übers Herz.“ Ich tröste sie und sage: „Man muss sich nicht schämen, wenn man ein gutes Gewissen hat.“ „Das habe ich“, sagt sie, „ich habe nur Rentenanträge geprüft und sie immer positiv beschieden. Und weißt du, Jura, Schuld an meinem und unserem Elend ist nur der Mann mit dem Teufelsmal auf dem Kopf.“ Sie zeigt auf ein Gorbatschowbild in einer Zeitung. 2.10.1994 Mein Geburtstag. Sonntag. Sonntagskind. Sonntagsstunden. Traumherbst. Am Morgen stand meine Studentengruppe singend vor der Tür um zu gratulieren und brachte eine selbst gebackene „Ameisentorte“ als Geschenk mit. Das ist ein süßer Hügel aus durch einen Fleischwolf gedrehtem Keksteig, der durch dicke Kondensmilch zusammengehalten wird. Wunderbar russisch süß. Nachdem mich meine Studenten verlassen haben, starte ich mit meinen Kollegen in den herrlichen sibirischen Herbstwald. Nach meiner Rückkehr vom Geburtstagsspaziergang finde ich folgenden Zettel von Mascha: „Verehrter, lieber, guter Gast und Bewohner aus dem Zimmer 3, Herr Jura! Ich, Maria Matwejewna Dergatsch, Mascha, gratuliere Ihnen herzlich zum Geburtstag eines Engels. Von ganzer Seele wünsche ich Ihnen eine kräftige sibirische Gesundheit, ein langes kaukasisches Leben und nur das Allerbeste im Leben – menschliches Glück, große Erfolge in Ihrer wissenschaftlichen Arbeit. Denken Sie immer an unser Sibirien, an die guten Menschen mit Herz, an die Güte der Alten und Jungen, die Sie verehren und lieben wie einen Russen, wie einen Deutschen des großen Deutschland. Wir sind Ihnen alle Brüder. Ich küsse Sie. Babka Mascha“ Ich bringe ihr kurz vor Dienstschluss noch eine Kostprobe der Kekstorte. Darauf schreibt sie mir erneut: „Guten Abend, liebes Geburtstagskind Jura. Der Kuchen ist sehr lecker! Ihnen und Ihren Studentinnen ´große danke schee´ (in lateinischer Schrift). Nochmals vielen Dank für die Bewirtung. Ich küsse Sie zwei Mal. Babka Mascha. 22.10. 1994 Ich koche das erste Mal Borschtsch, eine deftige russische Rote-Bete-Suppe. Sie findet großen Anklang. Mein neuer Zimmernachbar Oleg meint, er habe das ganze Leben versucht, Borschtsch zu kochen. Es sei ihm nie gelungen. Auch Babka Mascha, der ich wie immer eine Kostprobe bringe, meint in ihrem traditionellen Dankesbrief: „Mein lieber Jura! Vielen Dank für das Mittagessen, an dem ich mich gelabt habe. Ihr Süppchen war so lecker! Nun werde ich versuchen, zu Hause ein solches zu kochen und Sie damit beköstigen! Babka Mascha“ 24. 4. 1995 Auf dem Weg ins Kino treffe ich Babka Mascha, die von einer Festveranstaltung zum 50. Jahrestag der Universität heimkehrt. Sie schlurft mit Tränen in den Augen auf mich zu und meint: „Ach, Söhnchen, nun haben sie mir heute einen Orden an die Brust geheftet. Ohne Geschenke. Ohne Geld. Ohne die üblichen 100g Wodka. Was soll ich mit dem Ding anfangen? Abkaufen wird ihn mir niemand! Jura, Jura, Ruhm ist mir ohnehin egal. Ich will nur so lange leben, wie es geht. Schlecht leben ist immer noch besser als gut unter der Erde zu liegen.“ 5. 10. 1995 Babka Mascha ist tot. Ich erfahre es in Nowosibirsk per Telefon. Jene Liebe, die mir in Barnaul immer Briefchen schrieb. Im Sommer hat man sie entlassen, weil sie während des Dienstes immer einschlief. Vor meiner Abfahrt hatte sie zu mir gesagt: „Mein Söhnchen, mein Jura, wenn ich eines Tages zu Hause bleiben muss, dann ist das mein Tod. Es wird das Ende eines eigentlich sinnlosen Lebens sein.“ Und so ist es gekommen. Möge sie in Frieden ruhen, die Gute, die verkörperte russische Seele, das Sinnbild des Leidens dieses geduldigen Volkes. Mütterchen Mascha, die Du ein Synonym für Mütterchen Russland für mich geworden bist, ich möchte Dir jetzt sagen: Nichts war umsonst. Jedes von Dir gelebte Stück Menschlichkeit war sinnvoll, auch wenn es die neue Macht nicht wahrnimmt.
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